Ermöglicht die Staatsverschuldung eine gesamtwirtschaftlich positive (zusätzliche) Kassenhaltung?

Robert, Samstag, 26.12.2015, 19:23 (vor 3330 Tagen)10202 Views
bearbeitet von unbekannt, Samstag, 26.12.2015, 19:42

Hallo

Ich hoffe, alle hatten eine schöne Weihnachtszeit bis jetzt, und wenn es auch viele andere schöne Gedanken und Themen gibt, die man jetzt in der Weihnachtszeit haben könnte, mal abseits vom Geldthemen, lockt es mich zwischendurch und auch jetzt doch immer wieder hier rein und regt meinen Denkapparat an. Da Wirtschaft nun mal zu einem großen Teil auch unser Zusammenleben mitbestimmt, reizt es mich immer wieder, möglichst alle Vorgänge weitgehend verstehen und Unklarheiten beseitigen zu wollen. So gönne ich mir kurz eine „weihnachtliche Verschnaufpause", um ein paar Gedanken hier reinzuwerfen.

Ich lese regelmäßig - auch hier im Forum - Aussagen wie: der Staat ermögliche eine gesamtwirtschaftlich positive (zusätzliche) Kassenhaltung, öffentliche Defizite schaffen private Überschüsse, der Staat ist ein Nachschuldnerersatz, keine Staatsschulden, keine Guthaben, die Staatsschulden sind die Gegenbuchungen zu den Guthaben, die Privaten haben nun die Guthaben, der Staat die Schulden,
beides wächst steil exponentiell, er (der Staat) muss ständig Liquidität (via ZB) nachschießen, usw. usf. (Zitate hier aus dem Forum).

Aus diesen Aussagen würde ich folgern, dass z. B. den 2 Bio. Staatsschulden in Deutschland irgendwo
2 Bio. Guthaben entweder auf den ZBKonten oder den privaten Bankkonten „gehortet" werden.

Unter den Begriff „Guthaben" wird hier im Forum allgemein „Liquidität 1. Grades" verstanden, wie ich zahlreichen Diskussionen entnehmen konnte, d.h. Liquidität in Form von Sichtguthaben auf Bankkonten oder ZBGguthaben (M0,M3), um kurzfristige Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen.

Folge ich allerdings den Ausführungen z.B. von @Ashitaka, liegt der Staatsverschuldung i.d.R. keine (staatliche) Bilanzverlängerung zugrunde, da Staatsanleihen keine Kredite sind. Der Staat sammelt durch Anleihenverkauf nur bereits vorhandene Guthaben aus vorheriger privater Kreditvergabe in der VoWi ein, egal ob die Käufer dieser Anleihen Kreditinstitute oder institutionelle Anleger (Versicherungen, Treuhandgesellschaften, Pensionskassen etc.) sind.

Staatsanleihen sind demnach „nichts weiter als Durchleiter von bereits vorhandenen Geldern". (M0,M1)
und es werden also nur zusätzliche Forderungen (Wertpapiere) im (Nicht-)bankensektor geschaffen sprich Liquidität von A nach B umverteilt. Den Staatsdefiziten können ergo niemals „gehortete Guthaben" gegenüberstehen sondern Guthaben wurden ja bereits (in Staatsanleihen) investiert und existieren als Forderungen in den Wertpapierdepots.


Eine Bilanzverlängerung durch Staatsanleihen hingegen kann zeitlich nachgelagert nur durch ein Wertpapierpensionsgeschäft mit der Zentralbank im Interbankensektor (Aktiva: + Reserve, Passiva: + Verbindlichkeit ggü. ZB) zustande kommen ( = Erhöhung der „Geldbasis").
Doch diese zusätzliche Liquidität durch WPPGs nutzen Banken mWn nur, um vorübergehend ihre Reserven zu erhöhen und somit Interbankensaldi, welche bei Transaktionen durch Nichtbanken entstehen, ausgleichen zu können.


Denn nur Nachschuldner, die auch Kredite bei einer Bank eingeräumt bekommen, und somit ein Leistungsversprechen* abgeben, können zusätzliche Guthaben erzeugen, bzw. das Einräumen eines Sichtguthabens einer Bank durch den Kauf von Aktiva (Immobilien und Wertpapiere).

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*Leistungsverprechen = vertragliche Verpflichtung, durch aktives wirtschaftliches Handeln (i.d.R. Verkauf von Gütern) um an Schuldendeckungsmittel zu gelangen und seine Verbindlichkeiten zu reduzieren.
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Folgende Aussagen könnte man dann aufgrund dieser Fakten falsifizieren bzw. zumindest relativieren:

a) „der Staat ermöglicht (durch Verschuldung) eine gesamtwirtschaftlich positive (zusätzliche) Kassenhaltung? (Öffentliche Defizite schaffen private Überschüsse)"

Gesamtwirtschaftlich ändert sich die private Kassenhaltung für Nichtbanken innerhalb eines Währungsraumes nicht, sondern es findet nur ein Passivtausch statt. Nullfristiges Geldvermögen (Kassenbestände) wird dabei in längerfristiges Geldvermögen (Wertpapiere) umgewandelt. Die Kassenhaltung verändert sich also nur strukturell die Geld„menge" (Summe aller Guthaben) bleibt gleich. (Anm: Da Geldströme heute global sind, ist eine Gegenüberstellung nationaler Salden mit nationalen staatlichen Defiziten nicht sinnvoll).

Ausnahme: Ausländische Staatsverschuldung - überschüssige Guthaben aus dem Ausland erhöhen durch staatl. Anleihenverkauf die inländische Kassenhaltung der Banken und Nichtbanken.

Die Veränderung der strukturellen Kassenhaltung durch staatliche Verschuldung muss sich gesamtwirtschaftlich und längerfristig aber keinesfalls positiv auswirken, da niemand weiß, in welche Kassen die Guthaben der staatlichen Nachfrage letztlich fließen. Die können durch Import auch ins Ausland abfließen oder sich wiederum vorübergehend auf Überschusskonten sammeln.


Wobei staatliche Verschuldung auch unbedingt keine Preisinflation bewirken muss (vgl. Japan), und schon gar nicht, wenn gleichzeitig durch Tilgung und verminderte private Kreditnachfrage (wegen mangelnder Erwartung) die Geldmenge M1 sinkt bzw. gleichzeitig in höhere Geldaggregate umgeschichtet wird.
Das Volumen der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage muss sich also durch Staatsverschuldung nicht unbedingt positiv verändern. Des weiteren ist nicht ausgemacht, ob die gegenwärtige Höhe der Staatsverschuldung kausal aus einem „deficit spending" erfolgte, was ja immer gerne vorbehaltlos angenommen wird (dazu siehe unten).

Eine „Vulgärisierung" der keynesiansischen Gedanken, wobei Erhöhung der Volkseinkommen durch Staatsverschuldung (längerfristiges) Wachstum erzeugt, ist ergo zu vermeiden.
Vor allem dann, wenn die zusätzlichen nachfragenden Guthaben aus der Staatsverschuldung überwiegend konsumptiv verwendet werden aber die Produktivität sich nicht erhöht.
(Die „Crowding-out-These" mal außen vor, da diese im heutigen modernen Kreditwesen anzuzweifeln ist).


b) „Der Staat ist ein Nachschuldnerersatz"

Wenn der Staat Guthaben (M0,M1) aus vorherigen privaten Kreditaufnahmen stammend bzw. Interbankenreserven nur umverteilt, kann er global betrachtet kein Nachschuldnerersatz sein, sondern wenn dann nur national (nur bei entsprechender privater Auslandsverschuldung) ---> Nationale Geldmenge M1 erhöht sich.
Staatliche Nachfrage könnte bestenfalls eine erhöhte Neukreditaufnahme der Privaten (vermehrte Käufe) bzw. eine steigende Erwartung initiieren.

Selbst, wenn die ZB Staatsanleihen vom Sekundärmarkt kauft, erhöhen sich zwar die Bankenreserven, aber die Geldmenge M1 ändert sich dadurch nicht. Der Staat hat sein Geld schon bekommen.

Der Staat kann bestenfalls „Ersatzkonsument und Ersatzinvestor" sein. Ob immer eine Notwendigkeit dafür bestand, ist anzuzweifeln.

c) „Die Staatsschulden sind die Gegenbuchungen zu den Guthaben"

Das sehe ich nicht so. Zu welchen Guthaben genau?
Die Staatsdefizite (aus einer Periode x) sind imho zuerst einmal die Gegenbuchungen zu den privaten Forderungen (Anleihen).

Es ist ein Fehlschluss anzunehmen, der Staat habe Schulden, weil die privaten Haushalte oder Banken Guthaben besitzen.

Wenn diese Guthaben (nach dem Anleihenverkauf) über staatliche Nachfrage weitertransferiert werden, und sich dann wiederum irgendwo auf Überschusskonten akkumulieren, dann hat der Staat gleichzeitig steuerpflichtige Umsätze/ Einkommen geschaffen. Neue Geldströme fließen also auch zum Staat hin.

Diese Steuereinnahmen führen nun wiederum zu staatlichen Ausgaben, die sich wiederum auf Konten verteilen und zu Steuereinnahmen führen. Mitunter werden diese Guthaben auch auf Minuskonten treffen und ex nihilo ausgebucht oder zum Teil „gehortet" (vorübergehend auf Sichtguthabenkonten stehengelassen) bzw. mit Termin erneut gespart (investiert).

Mit anderen Worten, diese „Guthaben" könnten theoretisch auch ohne Staatsschulden existieren, nur die Kassenstruktur wäre anders. Der Staat hat durch die Staatsverschuldung lediglich die Kassenstruktur gesamtwirtschaftlich verändert. Die Guthaben sind also permanent (durch die Anleihenemmission) über die Konten der Finanzagentur GmbH „durchgeschleust" worden und haben sich neu „pulverisiert".
Ein Teil ist durch Bankkredittilgung ex nihilo verschwunden und neue private Guthaben sind durch Kreditneuaufnahme hinzugekommen.
Ich sehe hier ergo keine direkten „gehorteten Guthaben" als Gegenbuchung zu den Staatsanleihen in den Bankbilanzen, da Staatskredite keine Bilanzverlängerung erfordern.

And last but not least:

d) „Die Privaten haben nun die Guthaben, der Staat die Schulden. Beides wächst steil exponentiell, er muss ständig Liquidität (via die ZB) nachschießen".

Dieser Zusammenhang erscheint mir ergo unlogisch. Und was heißt nun? Die Privaten (Banken/Haushalte) hatten vorher auch die Guthaben und haben nun stattdessen Forderungen (Wertpapiere). Ein exponentielles Wachstum hier herzuleiten ist ebenfalls nicht richtig, weil es impliziert, dass der Staat sich laufend verschuldet, weil zu viele Guthaben „gehortet" werden. Das ist natürlich Unsinn. Der Staat hat sich empirisch nachweisbar stets auch in Boomzeiten verschuldet bzw. prozyklisch gehandelt.

Insofern ist auch die Aussage „Wenn das Volk weniger sparen würde, bräuchte sich der Staat weniger zu verschulden" mit Vorsicht zu genießen. Denn auch bei negativen Sparquoten wurden ja zusätzliche Staatsschulden gemacht (vgl. z.B. USA, Griechenland).

Die Steuern, die der Staat für seine Ausgaben braucht, zieht er ja im Rahmen seiner Möglichkeiten ein. Wenn die Steuern nicht reichen, den Haushalt zu finanzieren, ist das eine andere Sache. Was hat das mit den „Sparern" zu tun? Jeder kauft doch das, was zum Leben nötig ist. Warum sollte jemand mehr kaufen, als zum Leben nötig ist? Dann könnte man ja auch sagen: Löhne runter - damit am Ende des Monats nichts übrig bleibt ergo nichts gespart werden kann (@Rybezahl).

Zumal der Staat überhaupt nicht unbedingt als gezwungener „Neuschuldner für die Sparer einspringt", sondern es oftmals auch umgekehrt ist: Der Staat sammelt gerne überschüssige Guthaben aus einem privaten credit boom gegen Staatsanleihen ein und tätigt erneute (auch überflüssige) Staatsausgaben, da sich Staatsschulden leichter machen lassen und Ausgabenerhöhungen populärer beim Wahlvolk sind, als eine Steuererhöhung bzw. antizyklisches Handeln.

Der Staat „schießt auch nicht Liquidität nach", sondern die Banken wandeln bei Bedarf im Rahmen von befristeten WPPG Staatsanleihen in ZBGeld um, um Interbankenverbindlichkeiten auszugleichen. Beim Anleihenverkauf wird nichts „nachgeschossen".

Die eigentliche Liquidität kommt nur durch die private Kreditaufnahme, wobei der Staat wie oben beschrieben lediglich die Liquidität neu „pulverisiert".

Ausnahme: Der Staat verkauft Anleihen am Primärmarkt direkt an die ZB.
Beim Kauf von Anleihen auf dem Sekundärmarkt erhält der Staat keine zusätzliche Liquidität


Falls Denkfehler vorhanden sind bzw. ich bestimmte Aspekte noch ausgelassen haben sollte, bitte ich um Korrektur und Ergänzung.

Gruß


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