dazu Immanuel Wallerstein (2015 und 2011)

tradi, Donnerstag, 21.05.2015, 01:06 (vor 3554 Tagen) @ Bernadette_Lauert11871 Views
bearbeitet von unbekannt, Donnerstag, 21.05.2015, 01:34

Auszüge aus einem Interview mit Immanuel Wallerstein, Senior Research Scholar an der Yale University, USA. Mitbegründer der Weltsystem-Theorie, von 1994-1998 Präsident der International Sociological Association und Autor zahlreicher Bücher

Das Interview hier (2015) >> http://www.kontext-tv.de/sendung/20052015/immanuel-wallerstein

Sehr lesenswert auch das Interview (2011) >> http://www.kontext-tv.de/sendung/29062011/kapitalismus/immanuel-wallerstein

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Daraus ein paar Zeilen zu einigen deiner Punkte:

B_L: Spätestens wenn TTIP kommt ...

Immanuel Wallerstein (Auszug aus: TTIP als Hegemonieprojekt wird scheitern)
Nun, es ist sicher der Versuch, eine gewisse privilegierte Stellung für US-Firmen durchzusetzen, aber diese Handelsabkommen werden nicht durchkommen, lassen Sie mich das hier und heute vorhersagen. Die USA würden diese Handelsabkommen gerne umsetzen, und es gibt einige Partner, die sie ebenfalls wünschen, aber der Widerstand dagegen ist so stark, dass sie nicht abgeschlossen werden können, weder das pazifische noch das atlantische. Die USA versuchen das, aber sie werden keinen Erfolg haben. Wenn wir uns in zwei oder drei Jahren zum nächsten Interview treffen werden, dann sind diese Handelsabkommen tot.
Betrachtet man frühere Vorstöße in diese Richtung, also zum Beispiel bei dem WTO-Gipfel in Seattle im Jahre 1999, als man versucht hatte, international bestimmte Eigentumsansprüche für das Kapital durchzusetzen, ist das schließlich auch gescheitert. Und seither wurde immer wieder versucht, diese Sache wiederzubeleben, und keine davon war erfolgreich, noch wird sie je erfolgreich sein. Die WTO zum Beispiel ist heute eine völlig irrelevante Institution. Sie existiert zwar auf dem Papier, aber sie tut nichts, und sie kann nichts tun.

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B_L: Ich kann nachvollziehen, warum Du so wenig Zuversicht schöpfst. Keine Ahnung warum, aber ich glaube, dass diese ganze NWO-Kacke so läuft wie ein Teller, der auf einem Tisch auf der Kante drehend angeschoben wird. Erst geht es immer schneller. Doch irgendwann kommt der Punkt, wo nichts mehr läuft. Sofortiger Stopp. Oder nimm die Metapher: die künstlichen Strukturen müssen mit immer mehr Energie versorgt werden, die sich aber zurückzieht.

Immanuel Wallerstein (Auszug aus: Die Suche nach Alternativen ... )
... Es gibt in der Tat nur zwei theoretisch mögliche Ergebnisse. Das eine besteht darin, ein neues, nicht-kapitalistisches System zu schaffen, das aber dennoch die schlimmsten Eigenschaften des Kapitalismus bewahrt: Hierarchie, Ausbeutung und eine ruinöse Ungleichheit. Solche Verhältnisse kann man durchaus auf viele Weisen erreichen, nicht bloß im kapitalistischen System, und die Leute, die vom heutigen System profitieren, werden versuchen, sie durchzusetzen. Das wäre also die eine Option.
Die zweite Option ist das völlige Gegenteil. Sie würde bedeuten, zum ersten Mal in der Geschichte ein verhältnismäßig egalitäres und demokratisches System zu errichten.

Das also sind die beiden Möglichkeiten. Und darüber ist der Kampf entbrannt, auch wenn viele Menschen nicht begreifen, dass es darum geht. Zu Ihrer zweiten Frage: Wer beteiligt sich an diesem Kampf? Die meisten Menschen begreifen nicht, dass sie sich in diesem Kampf befinden. Es gibt aber kleine Gruppen auf beiden Seiten, die sich sehr wohl darüber bewusst sind und versuchen, die Menschen zu mobilisieren. Die Lage ist wirklich chaotisch.

In der Geschichte der westlichen Philosophie gab es eine große Debatte zwischen dem Determinismus und den Verfechtern des freien Willens. Und die Leute haben sich meist für die eine oder andere Auffassung, welches die bestimmende Realität der Welt ist, entschieden: Ist dies eine deterministische oder freie Welt? Ich sage, man muss das historisch kontextualisieren. Es gibt da kein Entweder-Oder, sondern es ist das eine oder das andere zu jeweils bestimmten Zeiten. Wenn ein System normal funktioniert, dann haben wir ein relativ deterministisches System. Man kann versuchen, es in radikaler Weise zu verändern, doch am Ende erreicht es wieder einen ausgeglichenen Zustand. Dies ist zwar ein bewegliches Gleichgewicht, aber eben doch ein Gleichgewicht.

Wenn wir uns aber in einer Übergangsphase zwischen zwei Systemen befinden, also in einer strukturellen Krise, dann haben wir ein freies System. Auch die kleinste Bewegung eines und einer jeden beeinflusst das System in deutlicher Weise. Das ist die Theorie des Schmetterlings. Man hat es vor vierzig, fünfzig Jahren entdeckt: Der Flügelschlag eines Schmetterlings hier verändert das Klima am anderen Ende der Welt, weil es die Ausgangsbedingungen eines bestimmten Prozesses verändert. Ich deute das so: Wir sind alle kleine Schmetterlinge, und jede Nano-Handlung und jedes Nano-Gewicht beeinflusst das Ergebnis. Aber während wir wissen, dass das Ergebnis entweder so oder so ausfallen muss, also dass am Scheideweg entweder der eine oder der andere Weg eingeschlagen werden wird, können wir nicht wissen, welcher Weg es sein wird. Das kann man schlechthin nicht vorhersagen. Wir können bloß kämpfen und streiten und versuchen, möglichst viele Schmetterlinge auf unsere Seite zu bringen.

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B_L: Es müsste längst eine breiter angelegte, gesamtgesellschaftliche Utopiediskussion geführt werden.

Fabian Scheidler: Sie unterscheiden zwischen einem »Geist von Davos« und einem »Geist von Porto Alegre«. Erklären Sie, was Sie damit meinen.

Immanuel Wallerstein (Auszug aus: Was kommt nach dem Kapitalismus? Die Suche nach Alternativen ...)
Ich benutze diese Sprache, um die beiden Richtungen zu beschreiben, die man an dieser historischen Wegkreuzung einschlagen kann. Der Geist von Porto Alegre – das war der Austragungsort des ersten Weltsozialforums – zielt auf eine verhältnismäßig demokratische und egalitäre Welt. Der Geist von Davos dagegen – also des Weltwirtschaftsforums – beschreibt die Geisteshaltung, die nach einer Struktur sucht, in der die Vorteile der privilegierten Minderheit des alten Systems mit neuen Mitteln wiederhergestellt werden sollen. Dies könnte noch weit schlimmer ausfallen als das gegenwärtige negative System. Es wird auf jeden Fall keine Besserung bringen.

Fabian Scheidler: Können Sie etwas zu den inneren Aufspaltungen der Davoser Richtung sagen?

Immanuel Wallerstein: Sehen Sie, es gibt in beiden Lagern jeweils zwei Strategien, die miteinander im Streit liegen. Im Lager der Davoser gibt es einen Richtungsstreit zwischen denen, die die Technik der gewaltsamen Unterdrückung bevorzugen und denen, die die Technik der Verführung durch Pseudoreformen favorisieren, die für die Menschen des anderen Lagers möglicherweise attraktiv sein könnte. Das Lager von Porto Alegre dagegen ist gespalten zwischen den Horizontalisten und den Vertretern eines wiederbelebten Vertikalismus. Es gibt also tatsächlich vier Strömungen, und damit ist es nicht leicht, die Lage zu verstehen, einzuschätzen und zu analysieren. Das führt zu weiterer Verwirrung, aber so sieht die Wirklichkeit nun einmal aus. Wir leben in einer sehr komplizierten Welt, in der es schwierig ist, zu erkennen, was wir tun wollen und wie wir es tun sollten. Und das alles in einer Situation mit ungewissem Ausgang. Wir können schlicht nicht wissen, wer siegen wird. Wir können nur hoffen und arbeiten, damit unsere Seite gewinnt.

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Der Preis der Freiheit ist ewige Wachsamkeit
(Thomas Jefferson)


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