Wie die Äste am Baum

Weiner, Donnerstag, 31.12.2015, 21:07 (vor 3325 Tagen) @ Robert4570 Views
bearbeitet von unbekannt, Freitag, 01.01.2016, 14:15

Hallo Robert,

umschriebene Kulturentwicklungen laufen meiner Auffassung nach insofern linear und kumulativ, als durch sie immer neues Wissen und neue Fertigkeiten zusammengetragen werden, die sich um eine bestimmte Thematik herum gruppieren. Damit ist meistens, wie Du richtig bemerkst, eine Ausdifferenzierung und eine sukzessive Ausschöpfung von Potentialen in Bezug auf die entsprechende Thematik verbunden. Ich persönlich achte beim Studium solcher Prozesse ganz besonders auf die Dauer und auf die zyklische Struktur der Entwicklungen. Starke Staaten beispielsweise zeigen oft einen 300jährigen Zyklus in ihrer Machtentfaltung, und ähnlich ist es auch in anderen Bereichen: nimm etwa die Entwicklung der Oper ab Monteverdi, oder die Form der Sonate, die Form der Symphonie, oder nimm die Entwicklung der Wahrscheinlichkeitsrechnung (Pascal/Fermat 1654 bis Kolmogorov 1933). Solche Entwicklungen bezeichne ich gern als kumulativ, weil der aktuelle Nutzer, vor allem am Ende des Prozesses, das gesamte in den vorhergehenden 300 Jahren erarbeitete und am Ende vereinheitlichte Instrumentarium anwenden kann (jedoch nicht muss).

Während die Idee der Symphonie (und des Orchesters) etwas spezifisch Abendländisches ist, gibt es in der kulturellen Menschheitstradition zahlreiche Entwicklungen, die über die einzelnen Kulturkörper hinwegziehen und von ihnen quasi unabhängig sind. Neben den erwähnten Schreibtechniken (oder etwa der Feuerwaffentechnik) ist eines der eindrücklichsten Beispiele in dieser Hinsicht die Astronomie, die vom Alteuropa nach Mesopotamien, dann über die Griechen bis ins neue Abendland zieht und hier ihre Vollkommenheit erlangt. Wenn man die Araber mitzählen möchte, dann haben hier also fünf Kulturen an einem gemeinsamen - nun wahrhaft menschheitlichen - geistigen Eigentum gearbeitet. Das Ziel war dabei die immer genauere Realitätserkenntnis in Bezug auf Himmel, Sterne, Weltraum. Und so also verstehe ich das Lineare: Ausrichtung auf ein Ziel, dem man sich immer mehr annähert. Leider sind die Mayas, obwohl absolut gleichrangige Profis in der Astronomie, draußen vor der Tür geblieben bei diesem Entwicklungsprozess, der einer Eimerkette beim Feuerlöschen vergleichbar ist: die Nachfolger hängen immer von den Vorarbeiten der Älteren ab, auch insofern ist das linear.

Echte 'transkulturelle' Rankengewächse sind vor allem Religionen. Ein schönes Beispiel ist etwa der Buddhismus, der in Indien entstanden war, in China eine Blüte mit eigener Färbung erhielt, und der dann in Japan sich ein drittes Mal beachtlich entfaltete. Eine andere Ranke ist nach Tibet gewachsen, weitere Ausläufer gingen nach Südostasien (Ceylon, Thailand).

Auch in der politischen Theorie bzw. Reflexion sehe ich eine Entwicklung, die über mehrere Kulturen hinweg gezogen ist. Da gibt es (wenn man sich auf das schriftlich Fixierte beschränkt) zunächst die altorientalischen Herrschergenealogie und Weisheitslehre (der Könige für die Thronfolger ...). Mit den Griechen wird dieses altorientalische Kulturgut ins helle Licht der Philosophie gestellt, die aber primär die eigenenen Erfahrungen im Rahmen der griechischen Polis aufarbeitet. Die Römer fügen dieser bereits sehr differenzierten Materie die politisch nüchterne, um Detail und Präzision bemühte Rechtspraxis hinzu. Und dann kommt ein absoluter Querschläger herein: die jüdisch-christliche Gottesebenbildlichkeit mit einer jedem Menschen individuell eigenen Würde vor Gott (was im Übrigen schon im alten Griechland angelegt und damit für das hellenistische Denken auch verstehbar war, siehe die griechischen Götterstatuen). Durch diesen kulturellen Querschläger ist die Idee des freien, souveränen und eigenverantwortlichen Individuums viel vollständiger und umfänglicher wieder ins abendländische Denken hineingeraten als das in der alten indogermanischen Tradition bereits einmal vorhanden war (freier Bauer und Krieger, freier Bürger in der Polis, souveräner 'pater familia').

Auf diesem einzigartig fruchtbaren Mutterboden der mittelmeerischen Antike wird dann die Kulturarbeit fortgesetzt, und es werden dabei nicht minder einzigartige Denkleistungen vollbracht. In der Staatstheorie etwa reißt man dem mittelalterlichen Gottesstaat nach dem Jahr 1500 wieder das Herz heraus, d.h. trennt die Kirche vom Staat, parallel dazu argumentiert man den eigentlich verbotenen Zins wieder herbei, grübelt gleich weiter so über Geld und Kapital, oder man entdeckt den Menschen nun auch im Indianer und im Neger, macht endlich Schluss mit der Sklaverei, prüft die Kongruenz von Staat und Herrscher sowie von Staat und Nation, bürdet dem Staat alsbald sogar die Fürsorge für das Leben des Bürgers auf, beraubt ihn gleichzeitig andererseits all seiner Werte - und wirft ihn, nun an seinem Ende, den plutokratischen Raubtieren zum Fraße vor.

Hierbei laufen einerseits reale historische Prozesse ab (im Bereich Geld etwa die Ausbildung des Bankenwesens ab der Renaissance), die aber gleichzeitig von einer sehr engagierten theoretischen Diskussion und Reflexion begleitet werden. Die von Dir, Robert, erwähnte Dunbar-Zahl ist nur ein winziges, wenn auch wichtiges Detail aus einer ganz anderen Abteilung der Reflexion: den Staat und das Zusammenleben von Menschen "naturwissenschaftlich" (?!) zu erfassen. Es gab im frühen japanischen Mittelalter einmal den Versuch, die Untertanenschaft in hierarchische Blöcke von 10 x 10 x 10 etc. Personen mit je einem Verantwortlichen/Blockwart/Ansprechpartner/Repräsentanten/"Abgeordneten" pro Gruppe zu gliedern. Auch bei der Strukturierung von Heeren spielen 'möglichst vernünftige' Gruppengrößen immer wieder ein Rolle in der Planung. Da hat man lange mit Erfahrungswerten gearbeitet, aber dieses Phänomen (die 'natürliche' Größe sozialer Gruppen) nun zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung zu machen, das ist typisch abendländisch.

Man mag denken, das alles sei nur theoretisch - und ein unterhaltsamer Zeitvertreib von Professoren und Philosophen. Ist es aber nicht. All diese verschlungenen Bewußtwerdungs- und Erkenntnisprozesse waren (und sind noch heute) mit extremen gesamtgesellschaftlichen Opfern verbunden. Kriege entstehen aus machtpolitischen und wirtschaftlichen Realitäten, aber um breite Volksmassen in den Krieg zu schieben, muss man den Krieg verargumentieren können. Dafür gut geeignet ist immer die Religion, und das wird dann "Glaubenskrieg" genannt. Dass man aber die Menschen mit philosophischen Fragestellungen, mit akademischen Weltanschauungen und mit Ideen aufeinanderhetzt - oder dass Revolutionen mit Verfassungsfragen begründet werden, das dürfte ein kurioses Spezifikum des Abendlandes sein.

Den Realgehalt und praktischen Niederschlag dieser langfristigen und - das war unser Ausgangspunkt - dieser auch transkulturellen und hier kumulierenden politischen Reflexionsarbeit können wir ferner dann sehen, wenn ein Migrant aufs Sozial-Amt (!!) geht und eine Waschmaschine verlangt. In seinem eigenen Land, von Nahost bis Fernost und bis Afrika ganz unten, würde er das gar nicht wagen bzw. überhaupt nicht machen können, bestenfalls würde er wieder vor die Tür gesetzt. Bei uns aber erhält er seine Waschmaschine. Und zwar kostenlos. Das ist so, weil wir einen Samuel Pufendorf hatten (allgemeine Menschenrechte: nicht nur eine Erfindung der französischen oder amerikanischen Revolutionäre!), einen Immanuel Kant, einen Friedrich Schiller, einen Marx&Engels, einen Bismarck&Bebel, einen Franz Oppenheimer - und so unzählbar viele andere mehr.

Ich habe hier ein paar extrem langfristige kulturelle und geistige Entwicklungsprozesse beschrieben, während Du, Rolf, vermutlich auf eine gleichbleibende "Conditio Humana" verweisen willst (deren ein Element die Dunbar-Zahl wäre). Meine Gegenfrage ist: kennen wir die "Conditio Humana" wirklich schon zureichend? Ist die Selbsterkenntnis bzw. die Erkenntnis unserer eigenen (biologischen) Art abgeschlossen und an ihr Ende gekommen? Und haben wir unsere Möglichkeiten schon alle ausgeschöpft? Ich denke, eher nicht! Zwar ist die Dunbar-Zahl eine Realität, aber dennoch schafft es der Mensch auf sonderbare Weise, drei 3 Millionen Soldaten auf einen koordinierten Feldzug nach Russland zu manövrieren, oder 12 Millionen Inder am Ganges zu einem Religionsfest zu versammeln, oder 36 Millionen Japaner in der Region Tokio friedlich miteinander leben und arbeiten zu lassen. Die Dunbar-Zahl sagt nicht viel mehr aus als die maximale Zahl der Kilogramm einer Kurzhantel, die mit einem Biceps gehoben werden kann. Manch einer macht mit der halben Kraft schon beeindruckendes Freeclimbing, und die Fäden der russischen Revolution liefen, ganz gegen Dunbar, in den Händen von nur drei Personen zusammen - die sich gleichzeitig spinnefeind waren und eigentlich gar nicht richtig kannten. Die Conditio Humana jedenfalls ist komplexer als wir das vermuten. Die (biologische) Entwicklung zum Menschen ist weitgehend abgeschlossen, guter Mensch zu sein ist eine Herausforderung, die jeder für sich annehmen muss, aber die Entwicklung der MENSCHHEIT fängt gegenwärtig erst an - sie ist die eigentliche Aufgabe unserer Tage: wie können Menschen in Großverbänden von mehreren Hundert Millionen Individuen dauerhaft, gut und entwicklungsoffen miteinander leben, ohne ihre eigene Natur und die Natur des Planeten dabei zu zerstören?

Ich wünsche den Mitlesern hier, dem Gelben Forum, besonders und mit Dank auch dem 'Chef", ein gutes, neues Jahr!

MfG, Weiner


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