Cäsaren und andere Tiere

Weiner, Mittwoch, 30.12.2015, 03:45 (vor 3327 Tagen) @ Taurec5301 Views

Guten Morgen

- und vielen Dank, Taurec, für Deine ausführliche Antwort, die sehr zum Sinnieren verleitet: etwa wenn Du etwa schreibst, "das Militärische" sei die "konkrete Form" staatlicher Außenpolitik. Für mich wäre eher Diplomatie die erste und vornehmste Form der Außenpolitik, nebst vielen anderen Formen und Instrumenten. Das Militärische würde ich als die allerletzte Option ansehen, da eben dieses "Militärische" längerfristig gesehen immer selbstmörderisch ist. Ganz besonders heutzutage.

Viele der von Dir gebrauchten Begriffe und Kontexte empfinde ich als erläuterungsbedürftig, etwa die "natürliche/organische Ordnung" oder die "natürliche Lebensentfaltung" oder das "selbstverantwortliche Gestalten der freien Männer", das "nach natürlichen Gesetzmäßigkeiten hierarchisch-organisch geordnet" sein solle.

Auf dem Artikel hier

http://www.rattenkultur.de/artikel/rangordnung.html

werden die vielfachen, sehr unterschiedlichen (!!) Formen von natürlicher Hierarchie bei Ratten erläutert. Ich denke beim Menschen ist das noch um eine Dimension komplizierter.

Du redest von "Führen und Leiten", von "Kleinhalten und Ausmerzen", von "Kultivieren und Fördern". Dein Fixpunkt ist dabei offensichtlich das Alphatier, welches all dies leisten soll. Es ist aber die Frage, ob Alphatiere gängiger Vorstellung uns in der aktuellen geschichtlichen Konstellation wirklich weiterhelfen kann. @Fidel hat nebenan dazu eine richtige Bemerkung gemacht: erfolgreiche (aber miese ...?) Alphatiere haben uns die derzeitige Lage erstmal eingebrockt.

Ich selbst habe hier im Forum einmal aus Brehms Tierleben zitiert, das Hausschaf dem Naturschaf (inklusive Alphabock ...) gegenüberstellend. Jetzt sehe ich, dass solche Vergleiche gefährlich sind. Der Mensch lehnt sich zwar gewissermaßen aus dem Rahmen der Natur heraus, ist aber dennoch an ihn gekettet. Einzelne Individuen können in diesem Wechselspiel für sich vielleicht ein Gleichgewicht bzw. eine optimale Verhaltensweise erreichen. In der großen Gemeinschaft - und das ist der entscheidende Punkt - wurde das beim Menschen noch nicht dauerhaft realisiert. Alphatiere würden m.E. dabei eher im Wege stehen.

Du schreibst: "Auch Alphamännchen sind Herdentiere, weil sich ihre Identität im Bezug auf die Herde bildet statt auf sich selbst." Genau hier, in der Dynamik zwischen Alphatier und Herde (die in Wirklichkeit eben gar kein 'Herde' im gebräuchlich abschätzigen Sinne ist bzw. sein sollte), genau hier liegt der Hund begraben. Hinzu kommt, dass im menschlichen Bereich heute "Herde" neben "Herde" steht, auf engstem Raume. Der Mensch hat auf dieses Problem noch keine Antwort gefunden. Rattenclans können durchaus eine Größe von 100 Individuen haben. Echte "Kriege" gibt es bei ihnen aber offenbar dennoch nicht. Man schätzt ihre Individuenzahl auf 350 Millionen in Deutschland. Dass z.B. die deutschen Ratten das benachbarte Rattenfrankreich erobern wollten, ist gemäß der bisher empirisch bekannten Rattensoziobiologie nicht vorstellbar. Rattengruppen, die von hier nach Marseille verbracht wurden, zeigten im Übrigen anfänglich Schwierigkeiten, sich dort unter Artgenossen einzuleben. Möglicherweise gibt es doch irgendwie Rattenreiche ...

Doch bleiben wir innerhalb der "Herde": wie entsteht ein positiver Bezug beim Alphamännchen auf die Herde, wenn das Alphamännchen - wie bei Dir gleich im nächsten Atemzug gefordert - dann doch "den Mitmenschen mit seinen unerheblichen Meinungen außen vor lässt"? Sind die Mitmenschen für das Alphatier Objekte oder respektierte Subjekte?

Selbst ein so ekelhafter Schlächter wie Napoleon hat monatelang mit eigener Hand intensiv am Code Civil gearbeitet, offenbar weil er ahnte, dass über alle Gewalt hinaus eine Gemeinschaft ohne bildende Regeln nicht existieren kann. Und selbst ein Dreckskerl wie Octavian hat irgendwann eingesehen, dass er sich an gewisse republikanische Gepflogenheiten halten muss, wenn Rom nicht von Neuem auseinanderbrechen sollte. Vielleicht ist diese Erkenntnis seine wirkliche Größe gewesen, oder das Tier in ihm hat halt instinktiv geahnt, dass er andernfalls enden würde wie Cäsar, Nero, Caligula ...

In menschlichen Gemeinschaften gelten Konventionen, über die sich auch superselbstermächtigte Antidemokraten nicht hinwegsetzen können, und möglicherweise sind diese Regeln von gleich transzendenter Natur wie die Gesetze der Physik. Weder die einen wie die anderen kennen wir bislang wirklich vollständig. Aber wir bemühen uns darum. Und was für die Erhellung dieser Regeln in den letzten 500 Jahren geleistet wurde (Kant bis Schachtschneider ist da nur ein einzelner, umschriebener Faden), das wird essentielles Erbe der Menschheit bleiben, genauso wie die Ammoniaksynthese oder die Photozelle - und völlig gleichgültig wie viele und wie schreckliche Cäsaren und selbstermächtigte Antidemokraten durch die Menschheit künftig noch hindurchtrampeln werden.

Du drehst Dich im Kreise, wenn Du einerseits einer gewissen Sorte geschichtlichen Gestalten freie Bahn konzedieren willst:

"Dann nämlich treten diejenigen auf den Plan, die ... stillschweigend 'den Tiger reitend' die Grundlagen für eine politische Präsenz gelegt haben, die in sich selbst gegründet, männlich-offensiv Gewalt ... anwendend das Leben gestaltet."

Während Du andererseits jene geschichtliche Figuren, die letztlich doch dasselbe tun, scharf verurteilst:

"im schlimmsten Falle ist er schädlich, nämlich wenn er es schafft, eine solche Masse ihm folgen zu lassen, daß er sich selbst zu den Futtertrögen emporhieven kann, während die Mehrheit in einer als Mündigkeit mißverstandenen Unmündigkeit verharrt."

Da möchte ich Dich doch gerne fragen, was die bishrigen Cäsaren in der menschlichen Geschichte denn anderes wollten, als primär sich und ihren Anhängern die Futtertröge zu sichern?

Das Hauptkennzeichen der "letzten Epoche" in der Begrifflichkeit Spenglers (von dem ich persönlich nicht viel halte, wiewohl ich ihn durchaus kenne) ist keineswegs der so genannte Cäsarismus, sondern diese letzte Epoche ist der Versuch, all das Viele und oft Divergierende, das in den drei vorausgehenden Epochen kulturell erarbeitet wurde, in einer Gesamtstruktur zusammenzufassen und zu bewahren. Augustus oder - bessere Beispiele - Trajan und Marc Aurel waren Wimpernschläge der Geschichte, ihre Legionen und Schatztruhen ebenfalls. Aber der Codex Justinianus blieb 1300 Jahre lang ein Referenzwerk für juristische Denkarbeit (wie auch der Vitruv für Architekten, Künstler und Städtebauer, der Galen für Ärzte, der Dioskurides für Naturforscher, der Ptolemäus für Astronomen, das NT für Gläubige etc. etc. etc.).

Über die Tatsache hinaus, dass die menschliche Geschichte regional und materiell gegliedert ist, und über die Tatsache hinaus, dass diese Gliederungen sich entlang zyklischen Strukturen entfalten (durchaus gesetzmäßig), ist es eine ebenso unzweifelhafte Tatsache, dass es eine lineare, kumulative und völlig eigenen Geistesstrukturen folgende Gesamtentwicklung der Menschheit gibt. Dieser "rote Faden" der Weltgeschichte überschreitet die einzelnen Kulturkörper (was Spengler nicht wahrhaben wollte, obwohl man ihn darauf aufmerksam gemacht hat). Beispielsweise können wir heute sowohl auf Tontäfelchen, wie auch auf Pergament, Papier oder gar auf Bildschirmen schreiben. An derart Schreibzeug und Schrift haben mehrere Kulturen nacheinander 'mit'gearbeitet, und all dieses schreibtechnische Wissen ist bewahrt geblieben und kann jederzeit von allen genutzt werden. In gleicher Weise gibt es seit 8000 Jahren ein kontinuierliches Nachdenken darüber, wie größere menschliche Gemeinschaften auf gute und angemessene Weise organisiert werden könnten, damit sie dauerhaft und entwicklungsoffen lebensfähig sein mögen. Menschen, die in diesem Prozess des Nachdenkens und auch in entsprechend praktischer Arbeit sich engagieren, die blicken zwar mit Sorge aber mit vermutlich noch weniger Wertschätzung auf die (angeblich) kommenden Cäsaren und Führer als womöglich Du auf die 'Demokratie' blickst.

Das mit Verlaub gesagt, aber bestens grüßend,
Weiner


Lehrmeister Ratte: was wir von den erfolgreichsten Säugetieren der Welt lernen können / Kelly G. Lambert.

Führungsethik : Erkenntnisse aus der Soziobiologie, Neurobiologie und Psychologie für werteorientiertes Führen / Thomas Kottmann; Kurt Smit

Soziobiologie : Die Evolution von Kooperation und Konkurrenz / von Eckart Voland

Der Superorganismus : der Erfolg von Ameisen, Bienen, Wespen und Termiten / Bert Hölldobler, Edward O. Wilson.

Etwas unappetitlich aber soziobiologisch sehr interessant sind auch Nacktmulle: http://home.arcor.de/kobuuum/nacktmulle.htm


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