Vier Schlüssel-Unterscheidungen zu einer Taxonomie von Gesellschaftstheorien

BillHicks ⌂, Wien, Dienstag, 23.08.2016, 23:56 (vor 3089 Tagen) @ nereus2256 Views

Hallo BillHicks!

Grüß' Dich nereus,

danke Dir für Deine Fragen!

Im Gesellschaftswald stehen offenbar ein paar Pflanzen und Bäume, auf die
sich Deiner Ansicht nach die Aufmerksamkeit konzentrieren sollte.

Es soll in dieser Metapher nicht um den (einen) "Gesellschaftswald" (der einen einzigen Gesellschaft) gehen, sondern um den Wald der unterschiedlichen Theorien über Gesellschaften.
Nochmal: der Wald von dem wir hier sprechen ist derjenige der unterschiedlichen Theorien über Gesellschaften. Die unterschiedlichen Baumarten in diesem Wald sind die unterschiedlichen Theoriearten.
Anhand welcher Merkmale kann man die unterschiedlichen Theoriebäume klassifizieren?

Kannst Du uns bitte einmal diese „Prachtstücke“ kurz benennen, welche
den Organismus „ins Leiden“ bringen?

Was ich auflisten kann sind Merkmale anhand derer unterschiedliche Gesellschaftstheorien klassifiziert werden können. Es sind jene, die ich derzeit vorwiegend verwende um mich in diesem Wald zu orientieren. Die Fähigkeit Unterscheidungen treffen zu können versetzt uns in die Lage nicht nur "grün" zu sehen (was durchaus auch nett sein kann), sondern eben unterschiedliche Baumarten erkennen zu können.

Nereus, gingen Du und ich als Null-Ahnung-Botaniker in den Wald, so sähen wir die ersten Tage wahrscheinlich ausschließlich "grün". So dürfte es den meisten gehen. Nicht aber erfahrenen Botanikern. Sie haben durch die vergleichende Methode Merkmale herausgearbeitet, die sie in die Lage versetzen die Bäume (und andere Pflanzen) zu klassifizieren. Aus dem "grün" werden dann unterschiedliche Bäume (Laubbäume, Nadelbäume etc.), Sträucher, Gräser usw.

Die Schlüsselunterscheidungen für unterschiedliche Theorien über die Gesellschaft, die ich derzeit nutze:
- Recht vs. Gewohnheit (bzw. Recht vs. Nicht-Recht) - eine Unterscheidung aus der vergleichenden Rechtsgeschichte, Rechtsanthropologie
- Öffentliches Recht vs. Privatrecht (ius publicum vs. ius privatum) - eine Unterscheidung aus der Rechtswissenschaft
- Eigentumsrechte vs. Forderungen (Eigentumsrechte (ius in rem) + Forderungen (ius in personam) = Vermögen) - eine Unterscheidung an der Schnittstelle Wirtschafts- und Rechtswissenschaft, insbesondere Rechnungslegung und Zivilrecht
- Einnahmen/Ausgaben vs. Einzahlungen/Auszahlungen (nur auf Basis der Einnahme/Ausgabe-Salden, d.h. auf Basis der (Netto-)Geldvermögen (= Kasse + Forderungen - Verbindlichkeiten) erfolgen Wolfgang Stützels saldenmechanische Betrachtungen). - eine Unterscheidung aus der kaufmännischen Praxis (Rechnungslegung)

Fehlt einer Theorie auch nur eine dieser vier Kern-Unterscheidungen kann sich aus meiner Sicht mit Hilfe dieser Theorie kein halbwegs klarer Blick auf das einstellen was als europäisch-westliche Zivilisation bezeichnet werden könnte.

[Anm.: Man darf diese Unterscheidungen erstens nicht als komplett starr und für immer feststehend ansehen - obwohl sie jeweils einzeln den genannten Fachdisziplinen entstammen - aber zweitens darf man schon gar nicht glauben damit wäre das Unterscheiden als solches in irgendeiner Form 'komplett'. Es kommt eben darauf an was man vor hat, was man versucht zu erkennen. Bei Unterscheidungen geht es darum Unterschiede zu finden, die einen Unterschied machen - immer in Bezug auf das was erkannt werden soll. Wenn man also beispielsweise die phänotypischen Unterschiede im englischen (Privatbanken) und im deutschen Bankwesen (Drei-Säulen-System) erklären können möchte (d.h. Unterschiede innerhalb der europäisch-westlichen Zivilisation), dann müsste man sich wohl die mannigfaltigen Unterschiede etwa in der Staatswerdung der einzelnen Nationalstaaten in der Neuzeit ansehen.]

Wenn wir anhand der Kriterien nun Gesellschaftstheorien ansehen, dann fallen schon mit der ersten Unterscheidung, die ich hier aufgeführt habe (Recht vs. Nicht-Recht) alle universalistischen Theorien sofort weg. Jene Erklärungen also, die behaupten über eine Erklärung für Gesellschaft 'an sich' zu verfügen - ohne jede Notwendigkeit historische Spezifika zu betrachten.

Die europäisch-westliche Zivilisation aber ist eine historisch spezifische Gesellschaftsform.

Man kann nun konkret fragen:
Welche dieser Kern-Unterscheidungen werden in der "neoklassischen VWL" explizit getroffen? Wo?
Welche im "Debitismus"? Wo?
Welche im "Keynesianismus"? Wo?
Welche in der "österreichischen Schule"? Wo?
usw.

Für die österreichische Schule etwa kann man sagen: für sie spielt der Unterschied "Eigentum" vs. "Besitz", der hier nicht einmal explizit aufgeführt ist (vgl. "Recht" vs. "Nicht-Recht"), keine Rolle, weil sie einer rechtsbefreiten Eigentumstheorie (nämlich jener von John Locke) folgen, die annimmt Eigentum (Recht) entstehe durch das Hinzufügen von Arbeit zu einer Sache. Das ist freilich juristisch hanebüchen. Aber die "Österreicher" wollen ja auch "nur" Ökonomie machen und eben nicht Jura. Das sollen doch die Juristen machen.

Bei braven Keynesianern steht es etwa ähnlich schlecht um juristisches Grundlagenwissen. Deshalb wäre von Keynesianern wohl nur durch Zufall ein umfassender Vorschlag zur Lösung der Eurokrise zu erwarten. Diese ist nämlich (auch) explizit eine juristische Krise.

Immerhin drei der Unterscheidungen werden explizit von einer Denkschule getroffen, die sich "Legal Institutionalism" nennt.
Mir ist noch keine Schule bekannt, die alle vier Unterscheidungen explizit trifft.

Klingt ein wenig nach Sarah Wagenknecht, doch man sagt, sie sei eine kluge
Frau.

Für mich ist ein Indikator für den dramatischen schlechten Zustand der ökonomischen Debatte in der Öffentlichkeit jener, dass Sarah Wagenknecht (gemeinsam mit ihrem Partner Lafontaine) für "ordoliberale" Positionen wirbt. Und schon damit als "links" gilt.
Aber die Positionen sind eben irgendwie schon "linker" als die sog. "neoliberale" Politik à la "New Labour" bzw. SPD unter Schröder.

Ich nehme an, Du meinst die Radikal-Privatisierung, die nach Kohl unter
rot-grün begann.

Ja.
Schon Kohl hätte wohl durchaus gerne mit Thatcher/Reagan direkt mitgezogen, aber das war aufgrund der (genossenschaftlichen, gewerkschaftlichen, föderalen ... etc.) Strukturen in Deutschland so einfach nicht möglich.

Unter Schröder kam dann das "Glück" der überbewerteten DM, das aus Deutschland nach der Euroeinführung zunächst mal den "kranken Mann Europas" gemacht hat.
Man konnte dann die bereits Jahrzehnte vorliegenden "neoliberalen" Konzepte aus den Schubladen ziehen und - dank Euro - damit groteskerweise sogar einen auf beggar-thy-neighbour-Politik basierenden Aufschwung generieren bzw. Arbeitslosigkeit in den Rest des Euroraums exportieren.

Falls dem so ist, wie war es unter einer
sozialdemokratisch-grünlackierten Regierung möglich, die Basis des
"Massenwohlstand"
sturmreif zu schießen?

S.o.
Unter einer CDU-Regierung wären diese Maßnahmen womöglich nicht einmal in der Situation des "kranken Mannes Europas" Anfang der 2000er durchsetzbar gewesen. Die Sozial- und Mittelstandsstaatsstrukturen (Genossenschaften, Gewerkschaften etc.) hätten hier ihre Wirkung wohl anders entfaltet, weil es viel leichter gewesen wäre etwa die damalige Noch-Volkspartei SPD geschlossen gegen diese "Reformen" - die nach außen nichts anderes als Neomerkantilismus waren - zu positionieren.

Waren die Staatsschulden
damals nicht erträglicher als jetzt?

Wohl kaum etwas wird überschätzt als Staatsschulden in der eigenen Währung, die von Inländern gehalten werden.
Der Staat kann grundsätzlich wählen ob er privatrechtlich (d.h. in der Rolle des Fiskus) oder öffentlich-rechtlich agieren möchte.
Mit Staatsanleihen agiert der Staat privatrechtlich.
Die Steuererhebung erfolgt öffentlich-rechtlich.
Werden die Staatsanleihen von Inländern in der eigenen Währung gehalten ist es ausschließlich eine steuerpolitische Frage.

Tricky wird es mit dem Ausland. Aber bei der Auslandsverschuldung darf man eben gerade nicht nur auf den Staat blicken sondern muss die Privaten mit einbeziehen. Das merkt die Türkei gerade, Brasilien auch, ... kann hier aber nicht ausgeführt werden.

Stehen „wir“ nach der Privatisierung nicht schlechter da als je
zuvor?

Das kommt darauf an wer mit "wir" gemeint ist.

Würde das nicht ein Ritt auf der Rasierklinge?
Die „Habenichtse“ heißen so, weil sie nichts haben und ihnen nichts
genommen werden kann.

Das zunehmende Problem ist, dass die "Habenichtse" auch nicht mehr Kaufen können. Von Bezahlen mal ganz zu schweigen.

Der Mittelstand trägt den Laden Staat und
„besitzt“ u.a. Immobilien.
Dort wären also noch Steuereinnahmen zu holen, bei steigenden Preisen
noch viel mehr.
Nur fallen dann noch mehr bislang „Vermögende“ durch das löchrige
Netz und die Breite der Besicherung (bezogen auf die Personenmenge) nimmt
immer weiter ab.

Ja. Das ist der eigentliche Knackpunkt und darüber redet weiterhin (fast) niemand:
Gerade durch den sog. "Wettbewerb" der Jurisdiktionen untereinander - auch und insbesondere in Europa - verlieren in erster Linie der deutsche, österreichische, französische, holländische, italienische (mit Abstrichen), ... Mittelstand.
Die Möglichkeit von allen Steuern eintreiben zu können, die innerhalb der eigenen Jurisdiktion wirtschaftlich erfolgreich tätig sind ist eine Frage der Macht.
Multijurisdiktionale Organisationen (oft ungenau als "Transnationale Konzerne" bezeichnet) können aber Jurisdiktionen-Arbitrage betreiben und haben so an Macht gegenüber den einzelnen Staaten gewonnen.
Die einzelnen Staaten "wehren" sich so wie sie können: sie gehen zunächst einmal in den Selbstverteidigungsmodus indem sie auf all jene stärker zugreifen, die in ihrem Zugriff verbleiben.

Der eigentliche Klassenkampf ist der zwischen Multijurisdiktionalen Organisationen (und ihren Eigentümern) und dem sog. "Mittelstand", der fast alle wirtschaftliche Tätigkeit innerhalb einer einzigen Jurisdiktion abwickelt, bzw. zumindest sein Vermögen dort hat.
Dass das keine leicht auszumachende Linie ist kann daran abgelesen werden, dass einzelne natürliche Personen Eigentümer einer Aktie eines DAX-Konzerns und sogleich "Mittelständler" sein können. Hier kommt es auf die Anteile an.

Ist das wirklich zu Ende gedacht oder soll man sich so das Ende denken,
weil schlußendlich alles vom neo-liberalen Staubsauger aufgesaugt wird und
es künftig keinen Mittelstand mehr geben wird?

Drei Wege sehe ich:
- so weiter wie bisher --> auf mittlere Sicht wird es keinen Mittelstand mehr geben. Nirgendwo.
- "Zurück" in den Nationalstaat --> Nach kurzfristigen Verwerfungen mittelfristige Linderung möglich, langfristig ein Rezept für Desaster (siehe 1930er)
- Stärkung des Prinzip des öffentlichen Rechts, so dass der gewachsenen Macht der Multijurisdiktionalen Organisationen begegnet werden kann, hoffentlich ohne in Totalitarismus (reines öffentliches Recht, z.B.: "Internationalsozialismus") abzugleiten. Ein extrem steiniger Weg. Hier würde echtes "Neuland" betreten.

Ohne Ausweitung der Macht des Öffentlichen Rechts wird es auf mittlere Sicht jedenfalls keinen Mittelstand in weltoffener Gesellschaft geben können.
Ein wirksames Öffentliches Recht ist für (echten) Mittelstand völlig unabdingbar.

mfG
nereus

Nochmal vielen Dank für Deine Fragen und schöne Grüße

--
BillHicks

..realized that all matter is merely energy condensed to a slow vibration – that we are all one consciousness experiencing itself subjectively. There's no such thing as death, life is only a dream, and we're the imagination of ourselves.


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