Staatlichkeit; "Steuerwettbewerb"; Zentralinstanzbildung; Progressivismus; Preistheorie

BillHicks ⌂, Wien, Donnerstag, 03.11.2016, 11:43 (vor 3018 Tagen) @ tar2140 Views
bearbeitet von unbekannt, Donnerstag, 03.11.2016, 15:44

Salut,

Grüß Dich Mario,

Frage:
macht es für Dich einen Unterschied ob die Herrschaft von Personen
ausgeübt wird (die damit per definition die Anwendung der Regeln ihrer
Herrschaft auf sich selbst als Personen selbst entscheiden
können!)
- oder aber - dem Anspruch nach - durch das Recht selbst gegenüber
allen Personen?


Interessant, dass geradewegs der Ansatz, personen-ungebundenes Recht zu
sprechen, eben ja in der sozial verwobenen Realität ebensowenig umzusetzen
ist, wie Politik an sich, weswegen ja auch die "Begriffsjurisprudenz"
irreal sei:

"Für rechtsschöpferisches Tätigwerden und Einzelfallgerechtigkeit des
Richters ließ die „Begriffsjurisprudenz“ angeblich keinen Raum."

Das Abschaffen aller Rechtsassymetrien kommt einer Abschaffung verwobener
Sozialstrukturen inkl. zugehöriger Machtverteilungen
(Beeinflussungsmöglichkeiten) gleich. Das erreicht man meiner bescheidenen
Auffassung nach nur durch die Abschaffung jeglicher Institution und Waffe,
ist also Phantasterei.

Das sehe ich genau wie Du.

Was freilich nicht davon befreit - mit dem Ziel einen funktionierenden Staat hinzubekommen - zu versuchen eine eher meritokratische und bürokratische Verwaltung aufzubauen, statt sich mit einer klientelistischen, von Bekanntschafts- und Verwandtschaftsverhältnissen dominierten neopatrimonialen Staatlichkeit zufrieden zu geben. Dabei kommt es nicht auf das an, was auf dem Papier (z.B. im Gesetzestext) steht, sondern was täglich gelebtes Recht ist.

Ich habe schon mit einigen gebildeten Italienern gesprochen, die mir Sachen gesagt haben wie:
"Ohhh... klar! Du musst wissen: das ist einer aus dem Süden! Da klappt die Zwangsvollstreckung im Zweifelsfall nicht. Das muss man "einpreisen". Das weiß doch jeder."

Hm... weiß das wirklich jeder? Wissen das wohlmeinende (Post)Keynesianer in Brüssel, Athen und sonstwo? Ich denke nicht.
Und diese arroganten Staatswissenschaftsagnostiker glauben auch noch, dass das "deutsches" Pedantentum wäre, wenn man auf eine wenigstens leidlich funktionierende Staatlichkeit besteht.

Die Rechnung dafür kommt. Die Rechnung für nichteintreibbare Forderungen in der €-Peripherie - die deshalb natürlich leichter eingegengangen werden als wenn man sich in vollem Bewusstsein über seine Haftung befindet und vollen Durchgriff auf sein Vermögen befürchten muss - sollen immer mehr diejenigen Zahlen, die sich in der sog. "Mittelschicht" der funktionierenden Staaten befinden. Weil die obere Oberschicht der funktionierenden Staaten natürlich längst "Steueroptimierung" usw. betreibt und deshalb die Rechnung gut nach unten - in die Mittelschicht nämlich - weiterreichen kann. "Steuerwettbewerb" und so. Eh klar.
Das ist ein Rezept für politisches Desaster.

Costum/Akephalität/Egalität/Konsens ->ZI-Bildung ->
Recht/Kephalität/Hierarchie/Zwang


ZI-Bildung = Zentralinstanzbildung?

Ja - die 1 Million € Frage der Kulturwissenschaft: wie kam es
überhaupt
zur Zentralinstanzbildung? Bzw. wie kam es vom Wandel einer planetaren,
liebevollen im Einklang mit der Natur lebenden akephalen "Kultur" zur
historisch und geographisch spezifischen kephalen, Gewalt ausübenden
(mal
mehr mal weniger transparent und legitimiert) "Kultur"?


Hast du schon
"Privateigentum,
Patriarchat, Geldwirtschaft - Eine sozialtheoretische Rekonstruktion zur
Antike"
gelesen?

Ja, das ist Pflichtlektüre :) :)

Falls ja, was erscheint dir daran unschlüssig?

Freilich habe ich Kritikpunkte an der ökonomischen Theorie und insbesondere Terminologie von Gunnar Heinsohn und auch bei der Zentralinstanz-Entstehungstheorie habe ich zwar ein eigenes Narrativ, aber es ist insgesamt doch sehr nah an der Geschichte dran, die Heinsohn in Privateigentum, Patriarchat, Geldwirtschaft erzählt. Finde das als zumindest von der (u.a. katastrophistischen) Stoßrichtung her sehr plausibel.

Sich daran anschließende Fragen:
Wie sieht die "nächste" planetare Kulturstufe aus? Wie kommt man da
hin?
usw.


a) Entweder man kommt "weiter" á la Star Trek durch Technologie (darauf
bauen lustigerweise vorwiegend sog. "Linke", eben weil hier all die
kommunistischen Phantasien denkbar wären)

Ja, aber nicht mit Tech alleine. Nicht mit Technologie, die den Sprung nicht hin zu Lebendigkeit schafft. Die alteuropäische Metaphysik (wahr, falsch, tertium non datur) hält Selbstreflexion nicht aus ohne antinomisch zu werden. Lebendige Systeme aber sind immer selbstbezüglich.
Da steht uns auch ein philosophischer "Quantensprung" bevor. Ausschließlich so wie die aktuelle Silicon-Valley Techno-Utopie aussieht, wird das wohl nix. Da muss (viel) mehr kommen.

b) oder es geht "zurück" zu Cäsaren/Felachen/Untergang durch allerlei
mögliche Katastrophen (selbstauslöschender (Bürger)Krieg durch
Überbevölkerung und/oder Ressourcenknappheit, schwerwiegende technische
Fehler, Naturkatastrophen, Krankheiten)

Klar. Gut möglich. Hab' mir sagen lassen, dass das Leben lebensgefährlich sei :)

Die (eine) Machttheorie ist mir nicht bekannt. Welche Rolle
Macht
tatsächlich in Privat- wie Öffentlichem Recht spielt schaue ich mir
jetzt
genauer an.


Dahingehend würde ich die Rolle der Macht so sehen, dass das vermeintlich
neutrale Recht (ggü. allen Personen gleich angewandt) früher oder später
durch Nepotismus der Akkumulierenden unterlaufen wird, bis es durch ein
Überspitzen dieses Unterlaufens zu einer Revolution und damit zu einer
Umkehrung der Verhältnisse kommt.

Ja, stimme Dir zu.
Vllt. nicht gleich eine Revolution, aber doch zumindest ein "Progressive Movement".

Zumeist rückten aber dabei lediglich
die zweiten Ränge nach ("Teile des Adels erheben sich gegen den König"),
die sich irgendwann auch bedroht sahen, während die unteren Ränge auch in
den neugeordneten Rechtsverhältnissen das Nachsehen haben.

Nicht notwendigerweise. Siehe "Progressives" in den USA.

EDIT:
Aber gerade hier ergeben sich für die unteren Ränge natürlich
ausreichend Gelegenheiten, durch deren Unterstützung jeweils einer Seite,
die bisher unfairen Rechtsverhältnisse zu beseitigen, was ja historisch
auch immer für eine gewisse Zeit gelang - und es gibt auch noch weit
vorausdenkende Staatsmänner, wie Solon oder Bismarck, die einer Revolution
(natürlich immer noch sichtbar durch deutliche politische
Kräfteverschiebungen) zuvorgekommen sind.

Ja, auch das.

Die Preistheorie halte ich dabei für den hier bislang am
wenigsten diskutierten bzw. weithin ignorierten Aspekt (von einer
Werttheorie, die den Namen verdient mal ganz zu schweigen).


Von Machttheorie hätte ich nun nicht zuerst auf Preistheorie geschlossen
;)

Ja, ich auch nicht. Aber ich sag' Dir... der Stützel hatte was drauf. Genial. Die Preistheorie (und die Werttheorie) halte ich für ein zentrales Feld, das für alle diejenigen zu bearbeiten ist, die sich ein Verständnis von "Macht" im sog. "Kapitalismus" aufbauen wollen.
Ist hier im Forum ein völliger blinder Fleck.
Hier reden Leute von "Markt" und "Wettbewerb" und Angebot und Nachfrage und was weiß ich nicht was und haben nicht den Hauch eines blassen Dunstes, worüber genau sie eigentlich sprechen.
Macht ja nix.
Ich halte meine Klappe bis ich glaube, dazu etwas Verständliches zu sagen zu haben. Hat sich für mich bewährt.

Gruß!­™

Danke für Deine Antwort!
Schöne Grüße

--
BillHicks

..realized that all matter is merely energy condensed to a slow vibration – that we are all one consciousness experiencing itself subjectively. There's no such thing as death, life is only a dream, and we're the imagination of ourselves.


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