Lest Nietzsche!
Nietzsche dämmerte im Ohrsessel vor sich hin
Zu Nietzsche muss ich einhaken, der Mann dämmerte keineswegs, sondern war
Zeit seines kurzen Lebens von kaum erträglichen, tagelang andauernden
Kopfschmerzattacken geplagt. Wenn er das Licht aushalten konnte, war er
draußen zu Fuß unterwegs, allerdings mit Notizbuch. Jeder Schullehrer
hätte sich längst in die vorzeitige Berufsunfähigkeit geflüchtet,
während er dabei einen guten Regalmeter sprachbildender Werke produzierte,
obwohl sich zu seinen Lebzeiten keine Sau dafür interessierte, verkaufte
Auflagen so um die Tausend Stück je Buch. Dabei reiste er unentwegt durch
Europa, um Plätze zu finden, wo er das Klima halbwegs aushalten konnte,
was ihm schließlich gelang, winters Turin und sommers Sils Maria.
Danke Orlando, für Deinen Beitrag.
Immer schön für mich, wenn die Großen aus unserem Kulturkreis erwähnt werden – und vielleicht wird ja der ein oder andere neugierig und liest diesen Seismographen geschichtlicher Verwerfungen…. Nein, DER dämmerte wirklich nicht! Jemand, der ein so großes Werk wie den Zarathustra in 10 (sic) Tagen im Sommer 1882 schuf, in dem sich in Nebensätzen zeitlose Wahrheiten finden (nein, nicht das mit „Du gehst zu einer Frau…..“ – das wohl auch, aber andere Beispiele wären „Sie erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung“ – oder – „Kirche ist eine Art von Staat und zwar die verlogenste“) – der verdient den Beinamen der „Philosoph mit dem Hammer“!
Wenn man Nieztsches Briefe liest, so findet man eben nicht schwarzgalligen Humor, sondern äusserst feinsinnige Sensibilität, größte Freundschaftsbekundungen und höchste Zärtlichkeit. Da bricht dieser Mann mit Wagner, dem eben noch verehrten Abgott, wird von diesem und dessen zahlreicher Anhängerschaft in Folge geschmäht und verachtet – und dann stirbt der „Meister aller Meister“ (Bruckner über Wagner) und Nietzsche schreibt der Witwe im Februar 1883 diese zärtlichen Zeilen:
„Sie haben einem Ziele gelebt und ihm jedes Opfer gebracht; und über die Liebe jenes Menschen hinaus erfassten Sie das Höchste, was seine Liebe und sein Hoffen erdachte; dem dienten Sie, dem gehören Sie und Ihr Name immerdar - dem, was nicht mit einem Menschen stirbt, ob es schon in ihm geboren wurde. Wenige wollen so etwas. Und von den Wenigen – wer kann es so wie Sie! So sehe ich heute auf Sie, und so sah ich, wenngleich aus großer Ferne, immer auf Sie, als auf die bestverehrte Frau, die es in meinem Herzen gibt“.
Dieser Mann, den keiner las, keiner verstand, von dem sich fast alle abwandten – er dämmerte nicht dahin, er war ein Lichtstrahl, dass das Dunkel durchdringt, ein heller Blitz in finstrer Nacht! Man muss ihn lesen, um zu verstehen, was Nietzsche vor seinem Absturz in die Krankheit geschaffen hat…. Es beeindruckt, es bewegt, es ist eine Macht der Sprache, wie ich sie nur bei ganz wenigen anderen Deutschen finde.
1888 und 1889, bevor der tiefe Fall in den Wahnsinn kommt, feuert Nietzsche seine Werke nur so hinaus - Die Götzendämmerung, Der Antichrist – er schreibt selbst: „SO ist nie gedichtet, nie gefühlt, nie gelitten worden – so leidet ein Gott, ein Dionysos“. Stefan Zweig ist in seiner Nietzsche Darstellung „Der Kampf mit dem Dämon“ begeistert und schreibt über diesen Sommer 1888: „Nie hat apokalyptischere Wut wilder ins Leere gewütet, nie so herrliche Hybris einen Geist über alles Irdische hinaus getrieben…… selbst der kranke Wahn Nietzsches ist noch größer als jener all der anderen im Geist Geblendeten…..“
Und dann folgt der Zusammenbruch. Und den niemand verstanden hat, versteht nun auch niemand mehr. Und nochmal Zweig: „Wem solcher Orkan durch die Seele gebraust, ist taub für alles Menschenwort. Wem der Dämon so tief ins Auge gesehen, der bleibt geblendet“.
Lest Nietzsche! Auch, um zu sehen, wie müde wir geworden sind, wie vernünftig.... und wie eng.
Beste Grüße
K_v_S
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Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.
Karl Valentin