Zerstreuung

Oblomow, Leipzig, Montag, 09.09.2019, 13:22 (vor 1908 Tagen) @ Mephistopheles1751 Views

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"Elend des Menschen.
1.

[150] Nichts ist mehr geeignet uns in die Kenntniß des menschlichen Elends zu leiten, als die Betrachtung der wahren Ursache von der beständigen Unruhe, in welcher die Menschen ihr Leben hinbringen.

Die Seele ist in den Leib gesetzt um darin kurze Zeit zu wohnen. Sie weiß, daß dieses nur ein Uebergang ist zu einer Reise in die Ewigkeit und daß ihr nur die kurze Zeit, die das Leben dauert, gegeben ist um sich darauf vor zu bereiten. Die Bedürfnisse der Natur rauben ihr einen sehr großen Theil dieser Zeit und es bleibt ihr davon nur sehr wenig, worüber sie verfügen kann. Aber dies wenige,[150] was ihr bleibt, fällt ihr so sehr zur Last, und setzt sie so sonderbar in Verlegenheit, daß sie nur dran denkt es zu verlieren. Es ist ihr eine unerträgliche Pein, daß sie genöthigt ist mit sich zu leben und an sich zu denkt. So ist es ihre einzige Sorge sich selbst zu vergessen und diese Zeit, die so kurz und so kostbar ist, verfliegen zu lasen ohne Betrachtung, unter der Beschäftigung mit Dingen, die sie hindern daran zu denken.

Daraus entstehen alle leidenschaftlichen Beschäftigungen der Menschen und alles, was man Belustigung oder Zeitvertreib nennt, in welchen man eigentlich nichts anders zum Zweck hat als die Zeit vergehn zu lassen, ohne sie zu fühlen oder vielmehr ohne sich selbst zu fühlen und diesen Theil des Lebens zu verlieren, um so der Bitterkeit und dem innern Ekel zu entgehn, welche die nothwendige Folge sein würden, wenn man während der Zeit die Beobachtung auf sich selbst richten wollte. Die Seele findet nicht in sich was sie befriedigt, sie sieht da nichts, was sie nicht bekümmert, wenn sie daran denkt. Das zwingt sie sich nach Außen zu verbreiten und in der Hingebung an äußere Dinge die Erinnerung an ihren wahren Zustand zu verlieren. Ihre Freude besteht in diesem Vergessen und um sie elend zu machen genügt es sie zu nöthigen, daß sie sehe und mit sich allein sei.

Man legt den Menschen von Kindheit von Kindheit an die Sorge auf für ihre Ehre, für ihre Güter und sogar für das Gut und die Ehre ihrer Verwandten und Freunde. Man überladet sie mit dem Studium der Sprachen, Wissenschaften, Leibesübungen und Künste. Man bürdet ihnen Geschäfte auf, und thut ihnen dar, wie sie nicht glücklich sein werden, wenn sie nicht durch ihre Betriebsamkeit und ihre Sorgfalt machen, daß ihr Vermögen und ihre Ehre und selbst das Vermögen und die Ehre ihrer Freunde in gutem Stande[151] sei, und wie sie unglücklich werden, wenn ihnen ein einziges von diesen Dingen fehlt. So giebt man ihnen Aemter und Geschäfte, die ihnen zu schaffen vom Morgen bis an den Abend. Das, sagt ihr, ist eine seltsame Art sie glücklich zu machen. Was könnte man Besseres thun, sie unglücklich zu machen? Fragt ihr, was man thun könnte? Man brauchte ihnen nur alle diese Sorgen zu nehmen, denn alsdann würden sie sich selbst sehen und an sich selbst denken, und das eben ist ihnen unerträglich. Auch nachdem sie sich mit so vielen Geschäften beladen, wenn sie noch einige Zeit der Erholung haben, suchen sie auch diese zu verlieren in irgend einem Vergnügen, das sie ganz in Besitz nimmt und sie sich selbst entreißt.

Darum, wenn ich anfing das mannigfaltige Hin-und Hertreiben der Menschen zu betrachten, wie sich den Gefahren und Mühseligkeiten aussetzen, am Hofe, im Kriege, bei der Verfolgung ihrer ehrgeizigen Ansprüche und wir daraus so viele Zwistigkeit, Leidenschaften und gefährliche und verderbliche Unternehmung entspringen, dann habe ich oft gesagt, alles Unglück der Menschen kommt davon her, daß sie nicht verstehn sich ruhig in einer Stube zu halten. Ein Mensch, der Güter genug hat um zu leben, wenn er bei sich daheim zu bleiben verstände, würde sich nicht heraus machen um aufs Meer zu gehn oder zur Belagerung einer Festung und wenn einfach nur zu leben suchte, bedürfte man dieser so gefahrvollen Beschäftigung wenig.

Aber wenn ich es näher betrachtete, fand ich: daß die Menschen so entfernt davon sind in der Ruhe und bei sich selbst zu bleiben, das hat eine sehr wahre Ursache, nämlich das natürliche Unglück unsers Zustandes, der schwach und sterblich ist und so elend, daß nichts uns trösten kann, wenn nichts uns hindert daran zu denken und wir nichts sehn als uns.(...)"

Herzlich
Oblomow

Einer meiner Fvoriten iat La Grande Illusion (1937)

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"Wer die Fähigkeit, Schönheit zu sehen, behält, der altert nicht." F.K.


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