Ich weiß nicht, ob ich das ernst nehmen soll, aber ich versuchs mal

Diogenes Lampe, Freitag, 06.09.2019, 23:08 (vor 1911 Tagen) @ Mephistopheles11114 Views
bearbeitet von unbekannt, Freitag, 06.09.2019, 23:29

Hallo Mephistopheles,

Ihr Einwand gegen einen nachhaltigen Weltfrieden ist nach meinem Dafürhalten einer auf Geschichte wie Gegenwart bezogen irrtümlichen Betrachtung der Weltgeschichte geschuldet, die Kausalität und Korrelation nicht wirklich sauber trennt.

Nicht die 70-jährige Friedensepoche hat Europa geschadet, sondern das globale Finanzsystem, das weiter munter nach Weltherrschaft strebte. Diese Friedensepoche war auch keine wirklich friedliche, sondern, wie Sie wissen, durchzogen von eisernen Vorhängen, allerlei Geheimdienstkriegen im Innern und mancherlei Angriffskriegen Richtung außen. Der Kalte Krieg war eben auch nur Politik mit anderen Mitteln und müsste Ihnen nach Ihrer bellizistischen Theorie eigentlich mehr gefallen haben, als Sie womöglich zugeben wollen.

Ich aber stelle mir unter nachhaltigem Weltfrieden etwas Friedlicheres vor.

Rom ist nicht an den Germanen zugrundegegangen, sondern an den Spätfolgen
der Pax Augustana.

Auch die Pax Augustana hielt als Epoche des inneren Reichsfriedens defacto nur bis zum Tod von Augustus. Danach war der Begriff nur noch Staatspropaganda. Unter seinen Nachfolgern ging es ja gleich weiter mit Tiberius, Caligula und all den Soldatenkaisern, die alles andere als friedlich waren und deshalb nur selten etwas länger als eine heutige Legislaturperiode regierten. Nicht mal von Marc Aurel oder Hadrian kann man behaupten, dass sie Frieden hielten.

Zwar war mit Octavian/Augustus der Bürgerkrieg beendet, die Macht diktatorisch zentralisiert worden, aber in den folgenden 250 Jahren ging das Reich an seiner äußeren, stets kriegerischen Überdehnung, den daraus folgenden Reichsteilungen und den damit einhergehenden andauernden Finanzkrisen und daraus sich ergebenden permanenten inneren Machtkämpfen zugrunde. Da gab es keinen Frieden, der das Wort verdient hätte und folglich auch nur in die Nähe Ihrer zweifellos mutigen und verwegenen Theorie käme.

Nachhaltiger Frieden zerstört die Lebenstüchtigkeit der Söhne und die
Erziehungsfähigkeit der Frauen. Sie bekommen keine Kinder mehr und die sie
noch bekommen, werden nicht mehr zu lebenstüchtigen Menschen
heranwachsen.

Ich halte Ihre biologistisch soziologistische Rousseau-Parodie mit Verlaub für abenteuerlich. Was ist daran lebenstüchtig, sich gegenseitig umzubringen? Nein, wirkliche Lebenstüchtigkeit setzt keine Kriege voraus, sondern ein reges und vor allem faires Wirtschaftsleben, von dem alle leben können. Not, die mit all den Kriegen ja notwendig einhergeht, macht bestenfalls erfinderisch, mutig, draufgängerisch, aber immer nur unter dem Vorzeichen der Abwehr der Verzweiflung am Leben. Und auch in Bezug auf die Erziehungsfähigkeit der Frauen ist Not wohl eher kontraproduktiv.

Nach Ihrer Theorie war dann wohl der 30-jährige Krieg eine Zeit der Babyboomer, der mannhaften Ertüchtigung und eine Blüte der Volkspädagogik?

Sie spielen da aber womöglich auf die verbreitete Theorie bezüglich der römischen Kaiserzeit und den Gründen ihres Untergangs an, nach der die Dekadenz der Verweichlichung es war, welche angeblich den Germanen überhaupt erst die Möglichkeit verschaffte, ins gelobte Reich verdorbener Römer einzufallen.

Dekadenz gab es aber bekanntlich schon während der Römischen Republik in ungeheuerem Ausmaß und ging letztlich auf die Sklaverei zurück, welche zur großflächigen Agrarwirtschaft führte. Die freien römischen Bauern wurden von den Latifundien, die mit ihr entstanden, verdrängt und wanderten in die Metropolen ab. Die wurden dann von dieser Pleps überbevölkert und der Handel mit Billigware aus aller Herren Länder ließ den römischen Mittelstand verkümmern. Zwar bekamen die Soldatenveteranen nach der Agrarreform von Marius ein Stück Land, aber sinnvolles und ertragreiches Bewirtschaften, das eine Großfamilie hätte ernähren können, war angesichts der überwältigenden Konkurrenz der Großgrundbesitzer dennoch kaum möglich.

In den römischen Städten ging daraufhin die Schere zwischen Arm und Reich noch krasser auf als heute. Die alte und die emporgekommene Oberschicht schwelgte in Luxus und Perversion. Die Pleps war weitgehend unproduktiv und so vom Staat mit Brot und Spielen auszuhalten und zu unterhalten, um den inneren Frieden in den Städten noch irgendwie aufrecht zu erhalten. Dazu wurde das römische Bürgerrecht multikulturell ausgeweitet, weil das sich stets vergrößernde Imperium ständig Soldatennachschub brauchte, welchen die römische Bauern -und Bürgerschaften mangels Masse gar nicht mehr stellen konnten. So wurde dann aus dem Kaiserreich auch ein multireligiöses und der innere Zusammenhalt der Römer somit immer fragiler. Kommt Ihnen das bekannt vor?

Wenn du ein Volk gründlich zerstören willst, dann gib ihm 100 Jahre
Frieden. Hat sich immer bewährt. Nachhaltiger Friede ist Θάνατος.

Sie verwechseln hier anscheinend nachhaltigen Frieden mit Friedhofsruhe oder Langeweile? Für mich ist Frieden aber die Voraussetzung, um das schöpferische Potential eines Volkes und jedes einzelnen Angehörigen desselben tatsächlich zu entwickeln. Frieden ist die Voraussetzung, dass Mütter ihre Kinder ernähren, aufziehen und zusammen mit den Vätern erziehen können. Natürlich finden auch in der friedlichsten Gesellschaft permanent Kämpfe statt. Das ganze Leben ist ein Kampf. Vor allem ein Ringen mit sich selbst. Kriegführen gegen sich selbst ist da aber auch keine Lösung.

Nur sehe ich die Perspektiven nicht ganz so pessimistisch wie du.

Ganz schön zynisch, aber freilich würdig eines Mephistopheles. [[ironie]]

In Wirklichkeit halte ich die Gefahr eines nachhaltigen Friedens nicht für
sonderlich groß, sondern das Gegenteil: Die Ausrottung der dekadenten
Population durch eine lebenskräftigere Nachfolgepopulation. Dann wird der
Kriegszustand wieder alltäglich sein, wie er jahrhunderttausende Jahre
lang in der menschlichen Geschichte war.

Naja, wir beide Auguren werden das dann wohl so oder so nicht mehr erleben. Aber meine Vorstellung vom Menschen, die ich vor allem an mir selbst schule -an wen auch sonst -, läßt mich da genießerischer schlussfolgern.

Also Ihren Optimismus würde ich gegen keinen Pessimismus der Welt tauschen wollen, selbst wenn ich einen hätte.


Die Sehnsucht nach einem nachhaltigen Frieden ist nichts anderes als die
Sehnsucht nach der Grabesruhe.

Da haben Sie recht! Denn da trotz allem nachhaltigen Weltfrieden kein Paradies auf Erden werden kann, sondern bestenfalls aus der schlechtesten die beste aller möglichen Welten, werde ich Menschlein wohl dann erst Frieden vor den mephistophelischen Mitmenschen - die lieber aus dem Mangel als aus der Fülle ihre schöpferischen Kräfte beziehen - finden, wenn mich die Grabesruhe umfängt. Wirklich wissen tue ich das aber auch nicht.

Gruß DL


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