Guten Abend,
ich möchte mich für die Aufmerksamkeit für meinen Beitrag von heute morgen bedanken, indem ich zwei Texte aus Brehms Tierleben (BT) sowie einen kleinen Text aus einer landwirtschaftlichen Enzyklopädie (LE) einstelle. Das Thema dieser Texte sind Schafe und ihr Verhalten. Die Beschreibung von Brehm zeigt einerseits starke Sprachkraft, andererseits die Fähigkeit, mit gängigem Wortschatz die Realität schnörkellos, anschaulich und absolut korrekt zu begreifen und abzubilden (im Ganzen wie im Detail!). Bemerkenswert werden diese Texte vor allem dann, wenn man sie auf den Menschen bezieht. Ob zu Brehms Zeiten solche Analogien schon im Hintergrund mitschwangen? Ich finde: in diesen Brehmschen Schilderungen sitzt auch so gesehen jeder Satz!
Reihenfolge: Das gehaltene Schaf (BT), das wildlebende Schaf (BT), der Leithammel (LE)
Ich wünsche eine vergnügliche Lektüre!
MfG, Weiner
~~~~~~~~~~[Das Hausschaf]~~~~~~~~~~~~~~~~~
Mehr als bei andern Haustieren, vielleicht mit alleiniger Ausnahme des Renntieres, sieht man an den Schafen, wie die Sklaverei entartet. Das zahme Schaf ist nur noch ein Schatten von dem wilden. Die Ziege bewahrt sich bis zu einem gewissen Grade auch in der Gefangenschaft ihre Selbständigkeit: das Schaf wird im Dienste des Menschen ein willenloser Knecht. Alle Lebhaftigkeit und Schnelligkeit, das gewandte, behende Wesen, die Kletterkünste, das kluge Erkennen und Meiden oder Abwehren der Gefahr, der Mut und die Kampflust, die die wilden Schafe zeigen, gehen bei den zahmen unter; sie sind eigentlich das gerade Gegenteil von ihren freilebenden Brüdern. Diese erinnern noch vielfach an die munteren, klugen, geweckten und übermütigen Ziegen: denn sie stehen ihnen in den meisten Eigenschaften und Fertigkeiten gleich und haben denselben regen Geist, dasselbe lebhafte Wesen; die zahmen sind unausstehliche Geschöpfe und können wahrhaftig nur den Landwirt begeistern, der aus dem wertvollen Vliese guten Gewinn zieht. Charakterlosigkeit ohnegleichen spricht sich in ihrem Wesen und Gebaren aus. Der stärkste Widder weicht feig dem kleinsten Hunde; ein unbedeutendes Tier kann eine ganze Herde erschrecken; blindlings folgt die Masse einem Führer, gleichviel ob derselbe ein erwählter ist oder bloß zufällig das Amt eines solchen bekleidet, stürzt sich ihm nach in augenscheinliche Gefahr, springt hinter ihm in die tobenden Fluten, obgleich es ersichtlich ist, daß alle, die den Satz wagten, zugrunde gehen müssen. Kein Tier läßt sich leichter hüten, leichter bemeistern als das zahme Schaf; es scheint sich zu freuen, wenn ein anderes Geschöpf ihm die Last abnimmt, für das eigene Beste sorgen zu müssen. Daß solche Geschöpfe gutmütig, sanft, friedlich, harmlos sind, darf uns nicht wundern. In den südlichen Ländern, wo die Schafe sich mehr überlassen sind als bei uns, erscheinen sie selbständiger, kühner und mutiger als hierzulande.
Die Vermehrung der Schafe ist ziemlich bedeutend. Das Weibchen bringt nach einer Tragzeit von zwanzig bis fünfundzwanzig Wochen ein oder zwei, seltener drei oder vier Junge zur Welt, die bald nach ihrer Geburt imstande sind, den Alten nachzufolgen. Die wilden Mütter verteidigen ihre Jungen mit Gefahr ihres Lebens und zeigen eine außerordentliche Liebe zu ihnen: die zahmen sind stumpf gegen die eigenen Kinder wie gegen alles übrige und glotzen den Menschen, der ihnen die Lämmer wegnimmt, unendlich dumm und gleichgültig an, ohne sich zu wehren. Nach verhältnismäßig kurzer Zeit werden die Jungen selbständig und bereits vor ihrem erfüllten ersten Lebensjahre selbst wieder fortpflanzungsfähig.
Fast alle wilden Arten lassen sich ohne erhebliche Mühe zähmen und behalten ihre Munterkeit wenigstens durch einige Geschlechter bei, pflanzen sich auch regelmäßig in der Gefangenschaft fort. An Leute, die sich viel mit ihnen abgeben, schließen sie sich innig an, folgen ihrem Rufe, nehmen gern Liebkosungen entgegen und können einen so hohen Grad von Zähmung erlangen, daß sie mit andern Haustieren auf die Weide gesandt werden dürfen, ohne günstige Gelegenheiten zur Wiedererlangung ihrer Freiheit zu benutzen. Die zahmen Schafe hat der Mensch, der sie seit Jahrtausenden pflegte, ihres hohen Nutzens wegen über die ganze Erde verbreitet und mit Erfolg auch in solchen Ländern eingeführt, die ihnen ursprünglich fremd waren.
~~~~~~[Das Argali bzw. Riesenwildschaf]~~~~~~~~~~~~~~~
Der berühmteste Reisende des Mittelalters, Marco Polo, der Ende des dreizehnten Jahrhunderts das Innere Asiens durchwanderte, erzählt, daß er auf der östlich von Bokara, etwa fünftausend Meter über dem Meere gelegenen Hochebene von Pamir riesige Schafe gesehen habe. Die Hörner derselben hätten eine Länge von drei, vier oder selbst sechs Handbreiten und würden von den Hirten als Gefäße zur Aufbewahrung ihrer Nahrungsmittel benutzt.
Przewalski, dem wir die eingehendsten Nachrichten über seine Lebensweise verdanken, traf im Winter Herden von fünf bis fünfzehn, ausnahmsweise aber auch solche von fünfundzwanzig bis dreißig Stück an. In jeder Herde befinden sich ein, zwei oder drei Böcke, von denen einer die Führung und Leitung der Schafe übernimmt. Letztere vertrauen der Wachsamkeit des Führers unbedingt; sobald er zu laufen beginnt, stürzt die Herde ihm blindlings nach. Der Bock geht gewöhnlich voran, hält aber von Zeit zu Zeit an, um zu sichern, und ebenso tut die ganze Herde, drängt sich jedoch dabei eng zusammen und schaut scharf nach der Gegend, aus der Gefahr droht. Zu besserer Sicherung ersteigt der Bock von Zeit zu Zeit einen nahen Felsen oder Hügel. Hier nimmt er sich prachtvoll aus, weil auf der Felsenspitze seine ganze Gestalt sich frei zeigt und seine Brust im Strahl der Sonne glänzt wie frischgefallener Schnee.
In den Morgenstunden äsen die Katschkare auf den Berghängen oder in den Tälern; kaum aber hat die Sonne sich höher erhoben, so lagern sie, um wiederzukäuen. Hierzu wählen sie sanft geneigte, gegen den Wind geschützte Bergeshänge, die nach allen Richtungen freie Umschau gewähren. Nachdem sie den Boden aufgescharrt haben, legen sie sich in den Staub und verweilen mehrere Stunden auf derselben Stelle. Ruht die ganze Herde, so lagern die Böcke meist ein wenig abseits, um im Ausspähen nicht behindert zu werden; besteht die Herde ausschließlich aus Böcken, ihrer drei, höchstens vier, so lagern sie nebeneinander, wenden die Köpfe jedoch nach verschiedenen Richtungen. Niemals vergessen sie, solche Vorsichtsmaßregeln zu treffen.
Die Katschkare besitzen eine ganz erstaunliche Lebenszähigkeit. Der von Sewerzoff erbeutete alte Katschkarbock war durch die erste Kugel am Geschröt und an einem Hinterfuß verletzt worden, infolgedessen das Laufen ihm schwer und schmerzlich sein und er daher oft anhalten mußte; dies gewährte den beiden ihn verfolgenden Kosaken die Möglichkeit, wiederholt auf ihn zu schießen. Eine zweite Kugel, die die Eingeweide zerriß, fällte ihn nicht; zwei andere Kugeln auf die Hörner warfen ihn zwar jedesmal wie tot zu Boden, er stand jedoch immer wieder auf und lief weiter; auch eine fünfte Kugel, die die Lungen durchbohrt hatte, führte den Tod noch nicht herbei, und erst die sechste, die ihn in das Herz traf, machte seinem Leben ein Ende. Nach der Berechnung der Kosaken waren sie ihrer Beute über zehn Werst weit nachgeritten, und von diesen hatte das Tier die letzten drei noch zurückgelegt, nachdem ihm bereits zwei tödliche Wunden beigebracht worden waren. Das Wildbret eines von Sewerzoff erbeuteten jungen Katschkarbocks hielt ungefähr die Mitte zwischen feistem Hammelfleisch und Hirschwildbret und war äußerst schmackhaft, das des alten Bocks dagegen keineswegs gut und mit einem unangenehmen Moschusgeruch behaftet.
Quelle: Alfred Brehm, Brehms Tierleben (Säugetiere. Band 9: Wiederkäuer, Kapitel II.), Gutenberg-Verlag (1927)
~~~~~~~~~~~~~~~~[Der Leithammel]~~~~~~~~~~
Leithammel (im Niedersächsischen Bellhammel, im recht Platten Leyhamel, im Holländ. Bellhamel, Belleman, von der Belle, d.i. Glocke oder Schelle, Französisch Clocheman) ist in der Landwirthschaft und besonders in den Schafheerden ein abgerichteter, gemeiniglich mit einer Glocke versehener Hammel, das Treiben der Schafe zu erleichtern. Weil die Schafe gesellig sind, so, dass wo eins hingehet, die andern alle ihm nachfolgen, sich auch bald zu dem Menschen gewöhnen lassen, dass sie ihm wie ein Hund nachlaufen, so haben die Schäferknechte im Gebrauch, sich einen Hammel abzurichten, der ihnen auf den Wink folgt, und mittelst dessen sie, nächst einem guten Schäferhunde, hernach die ganze Heerde leiten können, wohin sie wollen. Hieraus erhellet, wie der Schäferknecht vor seiner Heerde gehen kann, indem der Leithammel ihm folgt - dem folgen wieder die Schafe, und wenn er einen guten Hund hat, so beschließt dieser den Zug, und treibt die Langsamen zum Gehen an. Wegen der außerordentlichen Furchtsamkeit der Schafe, hält es allemahl schwer, eine Heerde vor einem ihr schreckhaften Gegenstande vorbei - oder über ein schmahle Brücke zu treiben. Ist ein Leithammel vorhanden, so geschieht solches ohne Mühe; hat der Schafer aber dergleichen nicht, so ergreift er einen andern Hammel, oder ein Schaf, und schleppt solches über den gefürchteten Ort, worauf ohne Umstände alle anderen nachfolgen. Eben dieses Mittels bedienen sich auch häufig die Schlächter, wenn sie Hammel oder Schafe treiben.
Quelle: Johann Georg Krünitz, Friedrich Jakob Floerken et. al., Oekonomische Encyklopädie, Band 77 (Berlin, 1799), S. 995/996).