Kissinger (92j.) Auf Russland zugehen! Es gibt keine Alternative.
Quelle: Weltwoche vom 12. Februar 2015:
«Ohne böse Absicht auf die Zehen treten»
Der amerikanische Stratege Henry Kissinger, 92, ist eine der prägendsten Figuren der Weltpolitik der letzten fünfzig Jahre. Er rät dem Westen dringend, in der Ukraine-Krise auf Russland zuzugehen, und zeigt Verständnis für die Position von Präsident Wladimir Putin.
Von Christine Brinck
Henry Kissingers Büro hoch oben über der Park Avenue ist dekoriert mit zahllosen Fotos, die ihn mit allen möglichen Präsidenten, nicht nur den amerikanischen, sowie PreÂmiers, Kanzlern, Königen, Aussenministern aus aller Welt zeigen. Seit Kissinger 1969 seine Âoffizielle Washingtoner Karriere begann (informell hatte er schon Kennedy beraten), ist er eine weltweit bekannte – und gefragte – ÂFigur. Mit seinen 91 Jahren ist er noch immer den ganzen Tag im Einsatz. An einem ganz normalen Mittwoch kann es passieren, dass er morgens Studenten mit ihrem Professor empfängt, die aus Harvard angereist sind, dann einen Lunch-Termin mit einem Schwergewicht aus Politik und Wirtschaft hat, dann seine Frau im Krankenhaus besucht, später bei einer Preisverleihung die Laudatio hält und schliesslich zu einem PräsidentenÂgeburtstag eilt. Das Gehen mag ein wenig Âbeschwerlich geworden sein, das Denken ist es nicht. Sein Witz ist ungebrochen, seine Neugier auch. Aus den angedrohten dreissig Minuten wird dann doch eine Stunde.
Ihr jüngstes Buch hat den knappen Titel «World Order». Aber die Welt ist aus den Fugen, wie Hamlet einst klagte. Warum jetzt, warum nicht zehn, zwanzig Jahre Âfrüher?
Vor zehn, zwanzig Jahren glaubten wir, in einer etablierten Weltordnung zu leben, die nur an ein paar Orten aus den Fugen geraten war. Heute müssen wir erkennen, dass das Konzept der Weltordnung nicht universell gilt. Stattdessen gibt es unterschiedliche Vorstellungen von Ordnung, die miteinander konkurrieren. Ich habe mich mit der Frage freilich schon in meinem Âersten Buch beschäftigt, aber da habe ich mich auf den europäischen Kontext beschränkt [«Diplomacy», auf Deutsch: «Die Vernunft der Nationen», 1994, d. Red].
Früher gab es immer nur einen HerausÂforderer, der gegen die etablierte Ordnung aufstand – zum Beispiel die Sowjetunion im Kalten Krieg. Heute sind da Russland, China, der Iran, der Islamische Staat . . .
Eine Unterscheidung: Früher war es einer versus die Etablierten. Jetzt geht es um unterschiedliche Konzepte. Ein Brite schrieb mir in einem Brief zu meinem Buch: «Haben Sie über das Problem nachgedacht, dass Sie über die Wiederherstellung einer WeltÂordnung schreiben, während wir bereits in einer neuen Weltordnung leben, die Sie nur ungern akzeptieren? Und wären Sie bereit, diese neue Ordnung als solche zu Âakzeptieren?» Interessante Frage . . .
Wie würden Sie denn die gegenwärtige Weltordnung beschreiben? Sie ist nicht bipolar, nicht multipolar, auch nicht apolar. Welche Institution könnte denn diese Ordnung aufrechterhalten?
Theoretisch haben wir eine Art Weltordnung in dem Sinne, dass jeder LippenÂbekenntnisse ablegt zum Westfälischen Frieden [beendete den Dreissigjährigen Krieg, d. Red.], der sich auf die Souveränität aller Staaten stützt. Doch viele legen diese Ordnung unterschiedlich aus, und manche wollen sie nicht akzeptieren. Der Islamische Staat beispielsweise und der Iran in seiner offiziellen Ideologie. Russland ist wie Russland seit eh und je: halb drinnen und halb draussen. Für westliche Politiker ist die Sache schwierig. Wenn wir mit den Chinesen reden, denken wir an ein Rechtssystem, das auf Souveränität gründet. In ihrer Geschichte haben die Chinesen nicht mit dem Begriff der Souveränität gelebt. Ihr VerhaltensÂkodex kennt keine Kultur einer Weltordnung. Sie haben ein China-zentriertes Konzept. Das heisst: kein imperialistisches im Sinne der ÂBesetzung anderer Länder. Vielmehr betrachteten sie Länder, die sich ihnen zuwendeten, als Tribut zahlende Staaten.
Kann es überhaupt eine Weltordnung ohne einen Hegemon geben?
Der Hegemonial-Instinkt ist ein uralter. Die einzige Zivilisation, die Ordnung auf einer Vielzahl von Staaten gegründet hat, ist der Westen. Überall sonst war Weltordnung imperial. Die westliche Idee von Ordnung Âberuht auf zweierlei: auf einer Vielzahl von Staaten, obwohl einige auf dieser Bühne hervorgehobene Rollen spielten, und vor Âallem auf einer gemeinsamen Ideologie, welche die vielen zusammenhielt. Heute aber herrschen andere Bedingungen.
Welche?
Anders als damals würde heute ein Krieg zwischen Grossmächten die Beschaffenheit der Welt total aus den Angeln heben. Ein solcher Krieg würde in einem Monat schaffen, wozu der Erste Weltkrieg vier Jahre brauchte – aber mit noch übleren Folgen. Das Âerklärt die nie dagewesene militärische Zurückhaltung der grossen Mächte. Neu sind ebenfalls Umwelt- und Klimaprobleme, die Verbreitung von Atomwaffen, die ihrer ÂNatur nach global sind. Das macht die ÂLösungen nicht einfacher. Nehmen Sie die Atomverhandlungen zwischen den USA und dem Iran: kein sinnvolles Übereinkommen seit vielen Jahren.
In der Vergangenheit hat Grossbritannien das System garantiert, dann den Stab an Amerika weitergereicht. Barack Obamas Amerika scheint nicht mehr so richtig zu wollen. Wer könnte jetzt den Stab überÂnehmen?
Interessante Frage, die zu einem anderen ÂAspekt führt. Jedwede frühere Ordnung trug eine Balance in sich, oder sie hatte Âjemand wie England, der das Gleichgewicht von aussen aufrechterhielt. Heute gibt es verschiedene Gleichgewichte auch in Asien – eines im Nordosten, eines im Südosten. Wenn man aber eine gesamtasiatische ÂBalance will, braucht man Amerika nicht als Ausgleicher von aussen, sondern als Mitglied des Systems.
Also mittendrin, nicht rein und raus. Braucht ein Gleichgewichtsgarant nicht Âeinen Metternich oder Bismarck, die alle Bälle in der Luft halten konnten? Die USA Âwaren der Hegemon nach 1945. Hat George W. Bush es mit seiner Machtüberhebung verspielt? Oder tut das jetzt Obama mit seiner Devise: «We have no strategy»?
Die Notwendigkeit einer permanenten Strategie ist nicht Teil amerikanischen Denkens. In diesem ist der Weltfrieden die Normalität. Treten Störer auf, müssen die bestraft werden. Oder wir legen ein Programm auf wie den Marshallplan oder die Nato. AmerikaÂnische Programme sind immer nur auf Zeit konzipiert. Eine Weltordnungsstrategie hingegen bedarf eines permanenten intellekÂtuellen Fundaments.
In «World Order» nennen Sie den Westfälischen Frieden als klassisches Beispiel einer Weltordnung. Das System ordnete freilich nur die Welt des Westens nach dem DreisÂsigjährigen Krieg . . .
. . . hat sich aber über die ganze Welt verÂbreitet.
Leiden wir jetzt an der Unzufriedenheit jener, die an der Abfassung dieser Regeln nicht beteiligt waren?
Die Mehrheit der Menschheit hat keine ÂAhnung vom Westfälischen Frieden. Er bezog sich auf einen winzigen Teil der Welt. Unzufrieden? Auf jeden Fall besteht der Rest der Welt, vorweg China, auf einer Âneuen Weltordnung. Indien könnte dazukommen.
Sind diese Länder revisionistisch, im Sinne von: «Ich will mehr für mich»? Oder Ârevolutionär, also einwendend: «Ich will diese Weltordnung nicht»?
Ich würde sagen, Russland ist revisionistisch. China ist irgendwie revisionistisch, der Iran ist revolutionär. Doch wohin sich China wenden wird, ist heute nicht ÂabÂsehbar; es kann auch ins Revolutionäre kippen.
Ordnung verlangt immer ein Mass an Zurückhaltung. Russland zeigt gegenwärtig solche Zurückhaltung nicht. Mit Blick auf die Ukraine: Was könnte oder sollte der Westen tun? Oder müsste er getan haben?
Ich halte die ukrainische Krise für eine Tragödie. Schritt für Schritt haben vernünftige Leute annehmbare Ziele angesteuert, doch dabei eine gefährliche Situation geschaffen, die von historischem Ausmass sein könnte. Meiner Meinung nach war das völlig unnötig.
Wieso?
Was immer man von Putin hält, er hat zehn Jahre seines Lebens dafür gegeben, die Olympischen Spiele nach Russland zu Âholen, er hat fünfzig Milliarden Euro für Sotschi ausgegeben, er kann nicht vorgehabt haben, nach den Spielen eine ukrainische Krise anzuzetteln. So muss man sich fragen: Wie ist er an diesen Punkt gekommen? Das rechtfertigt keine seiner Aktionen, aber es kann nicht sein, dass er es just zu diesem Zeitpunkt so geplant hat.
Wenn es nicht geplant war, was war der Grund?
Bei den Spielen versuchte Putin doch, Russland als ein Mitglied der internationalen Gemeinschaft vorzustellen. Man kann natürlich sagen, es sei alles eine Âgigantische Posse gewesen. Aber das ist Unfug. Jeder hat Fehler gemacht. Die EuroÂpäer dachten, sie könnten mit den Âukrainischen Verhandlungen Innenpolitik betreiben, und stellten Forderungen Âetwa zu der früheren ÂRegierungschefin ÂJulia ÂTimoschenko. Oder finanzielle ÂBedingungen, die hart für die Ukrainer waren. Nachdem die Ukrainer diese Forderungen zurückgewiesen hatten, überzogen die Russen und boten sich als ÂErsatz an, zum Beispiel als Geldgeber.
Und die Europäer?
Die gerieten daraufhin in Panik und eskalierten ihre Vorschläge. Die Russen schlugen dann Dreierverhandlungen vor, welche die Europäer ablehnten. Dies ist alles zweitrangig im Vergleich zur Sünde der Staatenlenker. Keiner von denen sagte: «Moment mal, hier geht es ums Eingemachte, um die Zukunft Russlands, der Ukraine, Europas und Amerikas. Wohin treiben wir?» Insbesondere wir, die Amerikaner, haben in dieser Phase gar nichts getan; wir hatten nicht einmal Âeinen Botschafter in Moskau. Psychologisch war der Westen auch nicht geschickt. Viele Regierungsgrössen wollten sich bei den ÂSpielen nicht zeigen, was die Russen als ÂBeleidigung wahrnahmen. Wären sie in ÂSoÂtschi gewesen, hätten sich vielleicht GelegenÂheiten zum Reden ergeben.
Es ging nicht nur um Aussenpolitik, sondern auch um eine demokratische Revolution – Stichwort Maidan.
Der Westen hat die Erhebung in Kiew als Âlokale Angelegenheit betrachtet: Demokraten kontra das Regime, obwohl die Regierung mit Âeiner Mehrheit gewählt worden war. Viele westliche Länder schickten ihre RepräsenÂtanten auf den Maidan und heizten die Sache so an. Wenn man es von der Warte Moskaus aus betrachtet, besteht kein Zweifel daran, dass Russland stets die nostalgische Neigung hatte, die Ukraine heim nach Russland zu holen. Bis 2014 dachten sie, sie könnten das über Âeinen längeren Zeitraum hinkriegen. Und plötzlich schlittert die Ukraine in die westliche Sphäre als Folge innenpolitischer Verwerfungen – mitten in den Sotschi-Feierlichkeiten. Eine ÂBeleidigung.
Und die Krim?
Ich rechtfertige die Besetzung der Krim nicht. Aber darum geht es nicht. Der Punkt ist, dass der Westen bis heute nicht verstanden hat, dass selbst diese Krise dazu hätte Âbenutzt werden sollen, Russland in der ÂGemeinschaft zu halten und nicht in die Isolation zu treiben. Aber mit dieser Ansicht stehe ich fast Âallein da.
Sie favorisieren persönliche Gespräche, also müssen Sie mit Steinmeier und Kanzlerin Merkel zufrieden sein, die häufig das Gespräch, oft per Telefon, mit Putin gesucht Âhaben. Glauben Sie, Frau Merkel gehe zu hart mit Putin um?
Ich weiss nicht genau, aber ich denke, nötig ist eine konzeptionelle Diskussion mit ÂPutin: Wo wollen wir hin? Deutschland wäre nicht stark genug, um das ohne die USA zu machen. Merkel ist nicht in der Position, ÂPutin die konzeptionelle Debatte anzubieten, die er sich wünscht. Auch hier wird Amerika Âgebraucht. Berlin und Moskau sind in der Zwickmühle. Es tut mir leid, dass Merkel in ihrer Enttäuschung so streng Âreagiert. Gleichwohl bin ich ein ehrlicher Bewunderer der Bundeskanzlerin.
In knapp zwei Jahren wird der nächste PräÂsident gewählt. Wenn das heute wäre, was würden Sie ihm zuvörderst raten?
Was wir gerade besprochen haben. Das Russlandproblem kann nicht mit einer taktischen Diskussion gelöst werden. Wir können alle möglichen Vereinbarungen treffen, doch Âsolange das offenbleibt . . . Nehmen wir beispielsweise China. Beide Länder Âhaben gesagt, dass sie Beziehungen etablieren wollen, die zeigen, wie Grossmächte, die potenzielle Rivalen sind, kooperieren können. Aber sie tun es nicht, sie schieben es auf, es bleibt eine offene Frage. Es liegt in der Natur der Sache, dass eine etablierte Macht und eine aufstrebende Macht einander ohne böse Absicht auf die Zehen treten. Dafür muss ein Rahmen gefunden werden, und so weit sind wir noch nicht.
Friedrich der Grosse trat auf die Zehen der Grossmächte, Bismarck-Deutschland auf die Englands, Japan auf die Amerikas . . .
. . . ja, und es führte immer zum Krieg.
Und welche Lehre ziehen wir daraus?
Wenn der Herausforderer denkt, er lebe Âimmer noch in der alten Welt, dann wird es explosiv.
Bei der letzten Münchner Sicherheitskonferenz haben Sie sich für die Menschenrechte starkgemacht. Das hat manche gewundert, da Sie doch als Realpolitiker gelten. Wie sollte man für Menschenrechte eintreten, laut oder leise?
Meine Überzeugung war und ist, dass die Menschenrechte wichtig sind, aber sie Âkönnen nie der exklusive Aspekt unserer AusÂsenpolitik sein, weil das zu unlösbaren Konfrontationen führen würde. Wir in der Nixon-Regierung haben zum Beispiel die jüdische Auswanderung aus Russland von 700 auf fast 40 000 erhöht, indem wir den Russen gesagt haben, wir hätten keinerlei Recht, etwas zu fordern, was eine innenÂpolitische Angelegenheit sei. Aber sie würden an unserer Aussenpolitik erkennen, was uns wichtig ist. Auf dieser Basis haben wir jährlich die Zahlen erhöht. Wir haben die Menschenrechte nicht als globales Recht Âhinausposaunt, aber wir haben sie gut verhandelt.
Die EU hat für die Aussenpolitik mittlerÂweile eine direkte Telefonnummer. Würden Sie heute Federica Mogherini, die AussenÂpolitik-Repräsentantin der EU, Âanrufen oder doch lieber David Cameron oder Angela ÂMerkel?
Ich würde vermutlich Merkel anrufen und würde die Möglichkeit offenlassen, dass Âeines Tages Europa eine echte Aussenpolitik hat und nicht nur einen bürokratischen KomÂpromiss.
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"Wir können nicht alle Helden sein, weil ja irgendeiner am Bordstein stehen und klatschen muss, wenn sie vorüber schreiten."
W. Adair