Hallo mp,
schönen Dank für die gepflegte Diskussion - ist man ja hier leider nicht mehr gewöhnt.
Also - schön, daß Du mal einen alternativen Standpunkt einbringst. Ich teile ihn aber nur teilweise.
Der ESM übernimmt die faulen griech. Schulden von den Banken.
Nein. Varoufakis - immerhin jetzt griechischer Finanzminister - schlaegt
vor, dass die EZB alle 'Maastricht-compliant' also bis 60% BIP - Schulden
aller EU Staaten uebernimmt, und in gleicher Hoehe auf dem Kapitalmarkt
Anleihen ausgibt, also liquiditaetstechnisch ein Nullsummenspiel
Argumentation: Maximale Bonitaet, da die EZB nie pleite gehen kann.
Das macht keinen Unterschied, denn das Problem der Leistungsbilanzungleichgewichte wird so aber nicht gelöst, es wird lediglich per Prolongation Zeit gewonnen.
Letztlich müssen sie abgeschrieben werden.
Sehe ich nicht so. Sie koennen durchaus auch 100 Jahre von der EZB
gehalten werden, und dann von Griechenland zurueckbezahlt werden.
Theoretisch ja. Möglich wäre dies aber nur, wenn die Überschussländer bereit wären, gegenüber den Griechen so lange Defizite zu machen, bis die Leistungsbilanzungleichgewichte beseitigt sind. Das würde - da ja in einer Währungsunion das Wechselkursventil nicht zur Verfügung steht - neben den Lohnsenkungen in GR (auf ein gerade noch tragbares Niveau) Lohnerhöhungen in D voraussetzen. In diesem Fall würden die Griechen durch ihre zeitweiligen Überschüsse ihre Schulden praktisch in Gütern zurückzahlen.
Es sollte klar sein, daß dies nur durch eine expansive Gesamtstrategie der gesamten Eurozone möglich ist, für die ich in Brüssel und v.a. in D mit seiner makroökonomisch debilen "schwäbische Hausfrau"-Mentalität keinerlei Anzeichen sehe.
Werden die Ungleichgewichte nicht durch Anpassung der Wettbewerbsfähigkeit in Überschuss- UND Defizitländern abgebaut, bleiben die Schulden unbezahlbar, und führen zu permanentem Druck der Überschussländer auf die Schuldnerländer, d.h. zu untragbaren Beziehungen, die letztlich in der Weigerung der Schuldnerländern kulminieren müssen, ihre Schulden zu bedienen. Dann müssen diese abgeschrieben werden, und die Überschussländern haben ihre Überschüsse damit quasi verschenkt, was auch sie nicht begeistern kann.
Das bedeutet einerseits Deflation, andererseits die permanente Verschärfung der internationalen Spannungen. Das hatten wir doch alles in den 20ern und 30ern mit dem Goldstandard 1:1 schon mal. Diejenigen Länder, die ihn als erste verlassen haben, sind damals am besten durch die Krise gekommen.
Hohe Staatsschulden gelten der herrschenden Ideologie zufolge als
schlecht
und inflationstreibend. Sie werden daher als Legitimation für weitere
"Reformen" genutzt werden, die den Staaten "Kosten sparen" sollen, d.h.
Rentenkürzungen, Verlängerungen der Lebensarbeitszeit, Kürzungen im
Sozial- und Gesundheitswesen - bis diese Bombe explodiert (was schon
2017
in FR beginnen könnte).
Schon moeglich. Oder die vorherrschende Ideologie aendert sich, so wie es
jetzt in Griechenland beginnt, und demnaechst in Spanien weitergeht, und
2017 in Frankreich auch.
Entscheidend ist aber, ob sich das Denken in Brüssel und v.a. in D im Hinblick auf die Notwendigkeit einer expansiven Gesamtstrategie als Voraussetzung des Abbaus der Leistungsbilanzungleichgewichte ändert - und dafür sehe ich bisher keine Anzeichen, eher eine Verhärtung der Fronten (s.o.).
Hohe Staatsschulden sind schliesslich, da brauchen wir unter uns nicht
diskutieren, und auch mit
Mephistopheles
nicht, nicht nur nicht per se schaedlich, sondern sogar u.U.
nuetzlich. Dann naemlich, wenn aus welchen Gruenden auch immer die Privaten
netto viel sparen wollen.
Und wenn sie viel sparen wollen, braucht es viel Staatsschulden.
Und solange sie nicht entsparen wollen, ist das absolut und voellig
unproblematisch.
Isoliert betrachtet, ja. Wir reden hier aber ja über Leistungsbilanzungleichgewichte, die viel wichtiger sind als Staatsdefizite. Siehe z.B. Temin/Vines: The Leaderless Economy, oder auch Flaßbecks Bücher. Hatte kürzlich auch hier etwas dazu geschrieben.
So werden die Schulden dann quasi auf die Konten der Lohnabhängigen
umgebucht, die damit zum Zahlmann für sämtliche Entgleisungen aller
anderen gemacht werden. Die SozialleistungsEMPFÄNGER dagegen werden
gebraucht, um den Druck auf die noch Beschäftigten dahingehend zu
erhöhen, ihr Lohnniveau weiter in Richtung auf Sozialhilfeniveau nach
unten "anpassen" zu lassen, mit dem Argument: "Wenn's Dir nicht paßt,
stehen genügend andere auf der Matte, die machen es auch für weniger
Kohle gern".
Nicht in Richtung Sozialhilfeniveau, sondern in Richtung chinesischer
Lohn. Denn kein Arbeitsplatz kann aufrechterhalten werden, wo ich das
Produkt der Arbeit auch aus Laendern beziehen kann, in denen nur 10% der in
Europa gaengigen Loehne gezahlt werden.
Welche Produkte meinst Du? Du hast insofern Recht, als auch die Chinesen permanente Leistungsbilanzüberschüsse fahren, allerdings nicht gegenüber Europa, dessen Leistungsbilanz insgesamt recht ausgeglichen ist. Außerdem gibt es hier zum Ausgleich der Wettbewerbsfähigkeiten ja auch das Wechselkursventil, das eben in der Eurozone fehlt.
DARÜBER müssen wir reden.
China hat Leistungsbilanzüberschüsse v.a. ggü. den USA, die deshalb nicht durch das Wechselkursventil ausgeglichen werden können, weil der Dollar (noch) als primäre Weltreservewährung fungiert (worauf das Leistungsbilanzdefizit der USA basiert, das nur solange für diese problemlos bleibt, wie sie selbst Weltmacht und der Dollar Weltgeld bleibt - daher das Interesse der USA, den Euro zu unterminieren, der ja - neben dem Renminbi - Kandidat für eine alternative Weltreservewährung ist).
Das Problem mit der Anpassung nach unten, es ist kein Finanzmarktproblem,
und kein Problem der Banker.
Es ist ein Problem des Freihandels ohne jegliche Auflagen, welcher
natuerlich ebenfalls ein Teil der neoliberalen Ideologie ist.
Nun, da darfst Du aber den Unterschied zwischen frei floatenden und fixen Wechselkursen nicht vergessen: ersteres zwischen Eurozone und China, letzteres innerhalb der Eurozone und in den 20er/30ern im Goldstandard. Ich fürchte, da erliegst Du noch der herrschenden Propaganda.
D.h. was immer auch passiert - Profiteure sind die risikofrei
agierenden
(weil "too big to fail/jail" "systemrelevanten") Banken, während
sämtliche Risiken und Lasten auf die Konten der Lohnabhängigen
umgebucht
werden.
Alle Probleme dieser Welt allein auf die finanzpolitische Ebene und die
Bankenpolitik zu schieben ist m.E. kontraproduktiv und verschleiert einen
grossen Teil der Probleme des Neoliberalsimus.
Keineswegs alle Probleme dieser Welt. Aber daß US-Großbanken in Zusammenarbeit mit Teilen der US-Regierung und des Pentagon hier eine koordinierte Weltmachtstrategie ("Full Spectrum Dominance") fahren, die eben auch auf Mittel des Finanzkriegs UND des Propagandakriegs (inclusive neoliberaler Ideologie) zurückgreift, wird doch immer offenbarer.
Es geht auch nicht um "Neoliberalismus" per se. Diesen sehe ich mittlerweile als Teil einer umfassenden imperialistischen Agenda der spätestens seit Clinton nicht mehr multi-, sondern unilateral agierenden USA. Lesetip (erhellend und nüchtern): Helmut Schmidt, die Mächte der Zukunft. Zu Details und zur Geschichte: F. William Engdahl.
M.E. vermischt Du hier zwei differenzierbare Probleme: deflationaeren,
finanzpolitischen Selbstmord aus Angst vor dem Tode (Schulden sind
schlecht, wir muessen oeffentlich und privat mehr sparen, sparen, sparen;
ausreichend von
Bill Hicks
laecherlich gemacht) auf der einen Seite, und das Problem des
globalisierten Freihandels, eine weitere riesige deflationaere Kraft, die
den Lohnabhängigen in der 'ersten Welt' in Konkurrenz mit den Aermsten der
Armen und somit Bescheidensten der Bescheidenen treten laesst.
Siehe oben - ich denke eher, daß Du hier die Probleme der Eurozone (Währungsunion) und internationalen Handels auf der Basis freier Wechselkurse vermischst. Müßten wir aber in mehr Detail diskutieren, denke ich.
Leider kann nicht jeder Arbeiter auf Oekologe oder
Integrationsbeauftragter umschulen.
Getreu der neoliberalen Theorie laesst man das Problem dennoch unbeachtet
und ungeloest, der Markt wird schon dafuer sorgen, dass die so freigelegten
Resourcen sich neu allokieren; und baut damit ein immer groesser werdendes
Revoltenpotential aus Globalisierungsverlierern auf, welche dann auch
diejenigen sind, die Syriza, Podemos und Front National an die Macht
bringen und zu guter Letzt auch den Neoliberalismus zu Fall bringen werden.
Das müßte man m.E. etwas differenzierter anschauen, da die Problemlagen in unterschiedlichen Ländern da unterschiedlich gelagert sind.
Nur ob dabei was vernuenftiges Neues erwaechst, bleibt zweifelhaft. Beim
letzten Mal erwuchsen Faschismus und Sozialismus, insgesamt auch keine
attraktiven Alternativen.
Nun, ich sehe zwar, daß in den Gegenbewegungen zwar die verdrängten Probleme klarer benannt werden, tragfähige Lösungskonzepte sehe ich bisher leider auch nirgends. Habe mich allerdings noch nicht konkret mit dem Programm z.B. der FN beschäftigt und daher außer ein paar Interviews mit LePen bisher nur eine eher dünne Informationsbasis.
Es wird den Massen ja nichts genommen.
Natürlich nicht direkt - das ist ja Teil der Strategie. Sondern
indirekt
- ideologisch vermittelt (s.o.).
Man muss gar keine - nicht sichtbare und auch nicht korrekt herleitbare -
indirekte, ideologische Ausbeutung der Massen konstruieren. Es gibt eine
sichtbare, direkte und leicht herleitbare: die Globalisierung.
Das ist, mit Verlaub, Ideologie pur. "Die Globalisierung" ist kein Subjekt, und nicht per se gegen die Interessen der Massen. Das gegenwärtige, von den USA betriebene Globalisierungsmodell dagegen schon. Auch das wäre eine eigene Diskussion, aber auch da denke ich, bleibst Du der herrschenden Ideologie verhaftet. Müßten wir aber im Detail anschauen, z.B. anhand verschiedener Perspektiven auf die angebliche "Chinesische Gefahr".
Nur hat die eben auch ein paar Vorteile, daher wird sie auch ungern in
Frage gestellt. Insbesondere von denjenigen, die dazu in der Lage waeren,
denn die profitieren allesamt von der Globalisierung und der Schwemme von
billigen Guetern aller Art, die auf diese Weise zugaenglich und bezahlbar
werden.
Die Massen hingegen haben kaum etwas, was man enteignen koennte. Man
kann
sie hoechstens verarmen, indem man ihr zukuenftiges Einkommen kuerzt.
Eben - und sie z.B. länger arbeiten läßt, ihre soziale Sicherheit
verschlechtert (Kündigungsschutzgesetze lockert, Flächentarife
abschafft,
Arbeitsmärkte dereguliert), weil sich so ja angeblich "Wachstum
schaffen"
und "Staatsschulden abbauen" lassen (seit 30 Jahren gescheitert, aber
bisher war noch jedesmal die Konsequenz, "then we haven't done enough
of
the same, let's do more of the same").
Ja, alles um irgendwie mit China, Indien usw - wo die wahren Reservearmeen
des Kapitalismus heute sitzen - konkurrenzfaehig zu werden, weil es
ansonsten innerhalb des neoliberalen Systems nicht darstellbar ist, die
Leute wieder in bezahlte Arbeit zu kriegen.
Wie gesagt, da würde mich mir erst noch eine detailliertere Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven vorbehalten wollen, die Wechselkurse, sinnvolle Wi-politische Ziele wie ausgeglichene Leistungsbilanzen, etc. einbezieht.
(Genausowenig wie die zuwandernden, bildungsfernen Armutsfluechtlinge)
Nur durch massiven Druck von unten - nicht nur in GR, sondern in
Gesamteuropa - kann dieser ideologoievermittelte
Umverteilungsmechanismus
von unten nach oben[/link] durchbrochen werden.
Dafuer braeuchte es m.M.n. eine Abkehr vom Freihandel, wodurch die
Untersten wieder in Arbeit gebracht werden koennten und auch Loehne nach
anderen Kriterien als denen des Weltkonkurrenzmarktes gebildet werden
koennten.
Wiederum kann man das nicht unabhängig vom jeweiligen Wechselkursregime betrachten, das wir erst im Detail diskutieren müßten. Mir scheint, daß Du hier das Modell des Wettbewerbs zwischen Unternehmen auf einem begrenzten Markt auf das anders gelagerte Problem der Beziehungen zwischen gesamten Volkswirtschaften überträgst.
Eine Abkehr vom Freihandel bedeutete selbstverstaendlich dann auch ein
Sinken des Lebensstandards fuer alle, die nicht ganz unten sind, da sich
die Gueter natuerlich erheblich mehr verteuerten, als der durchschnittliche
Anstieg der Loehne wettmachen wuerde. Auf realwirtschaftlicher Ebene
einfach durch die Verknappung des Angebots bei gleichzeitigem Anstieg der
Nachfrage (aus hoeheren Loehnen) zu erklaeren.
Protektionismus und Handelskriege waren ja die Lösung im Rahmen des Goldstandards der 20er und 30er, die direkt in die Deflation führten (was in der Eurozone heute wegen der fixen Wechselkurse ähnlich wäre).
Ob das gesamtwirtschaftlich sinnvoll waere, bezweifle ich zwar, schliesse
es aber nicht aus. Ein Wirtschaftsraum wie Europa ist gross genug, um im
wesentlichen alle Gueter, die verbraucht werden, auch selbst herzustellen.
Auch die Abschottung eines solchen grossen Marktes bzw die Bevorzugung
heimischer Produzenten ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit
wirtschaftlichem Niedergang. China betreibt das sehr erfolgreich.
Protektionismus ist eine sinnvolle Strategie nachholender Entwicklung, die z.B. den Deutschen im 19. Jhdt. zu ihrem Erfolg verholfen hat (Friedrich List), die aber heute im vom "Washington Consensus" propagierten und durchgesetzten Globalisierungsmodell zu Lasten der "Entwicklungsländer" unterbunden wird, die so über den IWF in die Schuldenfalle getrieben und dann von westlichen Unternehmen ausgebeutet werden.
Die Chinesen machen das völlig richtig. Für wen diese Strategie machbar ist, und für wen nicht, bräuchte eine detailliertere Diskussion.
Wenn man aber an der Globalisierung festhalten will, und damit automatisch
weite Teile der heimischen Bevoelkerung jeglicher wirtschaftlicher Chancen
beraubt,
Das das so sein muß, halte ich mittlerweile für einen Mythos, jedenfalls einen integralen Teil der herrschenden Propaganda, der zu hinterfragen ist. Es gibt auch andere Modelle der Gestaltung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen, der natürlich nicht im Interesse der Hegemonialmacht liegt, also von einem vereinigten "Rest" gegen diese durchgesetzt werden müßte. Da hapert es noch, doch die Amerikaner haben sich schon sehr viele Sympathien verspielt.
Worauf es also ankommt, ist, daß der "Rest" eine gemeinsame kohärente Alternativstrategie der Globalisierung entwirft (was einschließt, der neoliberalen Ideologie, die einen Teil der US-Hegemonialstrategie darstellt, den Garaus zu machen)
Das Modell des "Wettbewerbs der Nationen", das gegenwärtig die internationalen Beziehungen bestimmt, ist ja auch rein historisch nicht alternativlos. Die Ordnung von Bretton Woods war, wenn auch schon im US-Machtinteresse zurückgebogen und funktionalisiert, von den Grundgedanken her ein völlig anderes Globalisierungsmodell, auf das man zurückgreifen könnte (Stichwort: Kooperationsstaat vs. Wettbewerbsstaat, ich es hatte hier schon angesprochen und auf einen kurzen klärenden Text dazu verwiesen, den ich hierzu gern diskutieren würde - damals kamen dazu keine Rückmeldungen).
Der ursprüngliche Plan von Keynes sah beispielsweise eine internationale Verrechnungswährung (bancor)und eine internationale "clearing union" vor, die auf die auf ausgeglichene Leistungsbilanzen schaute und SOWOHL Defizit- als auch Überschußsünder sanktionieren sollte - etwas, was man in der Eurozone leider vergeblich sucht.
Es hat allerdings auch empfindliche Schwächen in der theoretischen Fundierung (staatliche und rechtliche Institutionenbasis!), die bei einer versuchten Neuauflage (wie z.B. von Putin in seiner Valdai-Rede vorgeschlagen, oder schon 2009 von den Chinesen ins Gespräch gebracht) behoben werden müßten.
DARÜBER müssen wir reden.
Gruß
PE