Hallo Dieter,
hoffe, Du hast meine Zeilen an Dich gefunden. Habe feststellen müssen, dass das hervoragende Buch, dass es lange bei der BPB kostenlos gab (und nun als vergriffen gemeldet wird - es verkauft sich auch gut), nun nur noch zu kaufen ist.
Das habe ich sehr oft interessierten Westdeutschen empfohlen und alle fanden das sehr gut.
Man muss sagen, dass Parteimitgliedschaft zur Bevorzugung führte, aber das war nicht sklavisch. Und auch mit weitere Disziplinierung verbunden (in der DDR waren ja alle in mehrere Kollektive eingebunden, die mit allen sprachen, die Mist gebaut haben - so wie sich Kollektive vor Gericht für den Täter verbürgen konnten). Kenne Parteimitglieder, die extrem hart arbeiteten, etliche waren auch sehr anerkannt, und bei denen die Vorzüge nicht so sichtbar wurden. Die Partei war ja eine Massenveranstaltung von 2,3 Mio bei 17 Mio Einwohnern.
Richtig dabei waren die hier: http://de.wikipedia.org/wiki/Kader#Sozialistische_Staaten
Aber siehe Wandlitz. So wie die heutigen Fürsten lebten die nicht mal mit weitem Abstand (und viele Handwerkermeister lebten weit besser - Monika Maron: Die DDR war eine Diktatur der Kellner, Klempner und Taxifahrer - die waren am Drücker, wie die im Handel inmitten einer Mangelgesellschaft, und das ist natürlich nur Umschreibung, aber so massenhaft, dass es jeden betraf). Der Vorzug der Bonzen war eher an Dinge zu kommen, die andere nicht kamen und vor allem Macht auszuüben. Druck und Misstrauen war überall.
Mir erzählte ein Freund, wie es bei der Laufbahnberatung heute in einem Ministerium lief: Dort sagte man, ab der Stufe nur noch mit Parteibuch: CDU, SPD, FDP, Grüne - halt ein Parteienstaat auch hier: man kann dazu mit der Suchfunktion hier fündig werden).
Eine nahe Verwandte durfte Abteilungsleiterin bei einer Zeitung werden, aber keine Untergebenen darin haben, weil sie nicht in der SED war, die ihren in der Verfassunge (!) verankerten Führungsanspruch durchsetzte. Das Politbüro war definitiv weit wichtiger als die Regierung.
Es gab aber auch reichlich Leute, die Jura oder Medizin studierten, ohne Mitgliedschaft (und ohne den - ungeschrieben! wie so Vieles - angeblich obligaten längeren Wehrdienst zu leisten). Die Machtpostionen wurden mit Kadern besetzt. Parteimitgliedschaft war ein Indiz für Zuverlässigkeit und Staatsverbundenheit - was viele, viele Mitläufer zur Folge hatte, wie das berühmte DDR-Spiel Einholen ohne Überholen auch zeigt, das den endlosen Alltag der DDR brilliant transportiert: http://www.amazon.de/%C3%9Cberholen-Ohne-Einzuholen-Various/dp/B00004ZWC2 )
Nun zu einer spannenden Frage von Dir: Sicher, die Ossis lernten früh dem Staat zu misstrauen und distanziert gegenüber zu treten (der unterdrückte auch heftig - die Doktrin sprach aber auch von der Abschaffung des Staates, wie Marx es vorhersagte).
Und sie misstrauten ihren Medien und Politikern abgrundtief. Zurecht.
Sie lernten zwischen den Zeilen zu lesen (!) und andere Mitteilungskanäle zu nutzen (Gerüchte, die sich oft als wahr erwiesen, genannt: Buschfunk). Wir sahen immer Nachrichten aus Ost und West (West natürlich nur aus dem TV, wobei man ja die aktuelle Kamera nur selten für irgend was gebrauchen konnte - das war so öde, wie die "Bleiwüsten" mit denen die Zeitungen nach Parteitagen geflutet waren.
Das heißt, einerseits waren sie angepasster, andererseits kritischer. Eine merkwürdige Mixtur.
Es soll ja auch hinsichtlich Nachwuchs und Sexualität an etlichen Stellen weit besser bestellt gewesen sein, als heute. Das Scheidungsrecht war anders, weil alle selbst verdienten. Es gab weit vor dem Westen gesetzlich angeordnet Ehe und Sexualberatungsstellen - kostenlose Verhütung und Kinderbetreung (aber trotzdem viele Abbrüche).
In der DDR musste man argumentieren und formulieren lernen, wenn man etwas erreichen konnte, aber auch schlimmste Phrasen dreschen, in dem man das stetig und überall abgeforderte Bekenntnis zu Staat und Ordnung ableiste.
Das Vormundschaftliche und Repressive war weit präsenter als heute. Kein Wunder, dass das niemand wieder haben wollte.
Wer will sich schon vorschreiben lassen, was er liest, sieht, denkt und sagen soll.
Es könnte also auch eine Erziehung zur Freiheit gewesen sein, weil man ja weiß, was man nicht mehr will und was Staat sein kann wobei die Gedankenwäsche auch dort ihr Werk tat. Heute staune ich über Freunde, die früher beiden Seiten misstrauten, und die heute MSM glauben. Aus Bequemlichkeit - denn es ist vieles, vieles heute bequemer, als damals. Allerdings ware vieles nicht da, z. B. Hochschulstudien für nur wenige limitiert - die Masse lernte Beruf und Handwerk, aber eben kein Obdachlosen, Arbeitslosen, sehr günstige Lebensmittel, Beförderungsmittel und Mieten, jeder machte lange Urlaub.
Heute nutzen hier in Berlin viele, viele die tolle Infrastruktur für Kinderbetreuung, die in der DDR entstand, weil alle arbeiten sollten. Wenn man dann sagt, dass das in der DDR entstand, bekommt man tatsächlich Autobahn zu hören.
Man kann das hier alles nur zu einem geringen Teil erzählen. Und es gab eben auch eine Menge DDR-Zeitungen die heißbeliebt waren, weil sie gut waren: Magazin, Eulenspiegel, Wochepost - allesamt "Bückware", weil sich der Verkäufer unter den Ladentisch bücken musste - Papier war für größere Auflagen zu knapp, und die Preise dafür unglaublich gering).
Vieles ist ja auch schon genannt worden: Man musste mehr selbst tun, weil Handwerk und Material knapp waren, und lernte viel dabei. Und man half sich viel mehr gegenseitig (wie heute die Jungen bei Umzügen).
Alles sehr ambivalent.
Fazit: Keiner will das zurück, aber es schulte durchaus. Dem ist man ja auch immer wieder massiv zu Leibe gerückt, als sei es das Reich des Bösen schlechthin gewesen. In etlichem blöde Konkurenz, auch hinsichtlich der "Wahrheiten" und "Ansichten" von damals und heute.
Unverständlich waren mir zunächst die, die das Ossisein verbargen, aber als Jungs mit ostdeutscher Herkunft, die im Westen leben, sagten, dass sie das lieber meiden, habe ich das verstanden. Man wird oft wie ein Idiot oder wie eine Art Nazi behandelt (ausgerechnet im Parteienstaat BRD, der massenhaft alten Kämpfern zu seiner Basis machte, die aber wohl als systemkonformer gelten).
Viele freundliche Grüße
azur
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